Es war während der Lehrzeit, als Willi Mernyi das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen das erste Mal besuchte. Ein alter Gewerkschafter führte die Gruppe Jugendlicher durch das ehemalige Lager. Am Ende der Führung sagte der Mann, er müsse ihnen noch eine Baracke zeigen. "Warum ausgerechnet diese?", fragte jemand. "Weil ich dort liegen musste", habe er geantwortet und auf eine Ecke gedeutet: "Ich wollte die ein Mal noch sehen."

Einer der letzten Zeugen vom ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen.
Foto: Imago/Dedl

Diese Begegnung mit der Erinnerung prägte sich tief ins Gedächtnis des Lehrlings ein. Sie ist wohl mitverantwortlich dafür, dass Mernyi heute das Mauthausen-Komitee leitet und die Gedenkveranstaltung mitorganisiert, die gerade am Sonntag stattgefunden hat. Seit der ersten Befreiungsfeier 1946 kommen jährlich zigtausende Menschen, um an die unzähligen Opfer zu erinnern. So konstant diese Zahl bleibt, so rasant verändert sich jene der teilnehmenden Überlebenden des Lagers. Heuer seien es rund 50 gewesen, schätzt Mernyi. Und er weiß, in nicht allzu ferner Zukunft wird es gar keiner mehr sein.

Ritualisiertes Gedenken

Was bedeutet das für die Erinnerungskultur? Braucht es Überlebende, um die Gräuel des Holocaust für nachkommende Generationen begreifbar zu machen?

Nein, sagt Natan Sznaider. Der israelische Soziologe, selbst Sohn Überlebender, ist des Gedenkens müde geworden. Er stellt die Sinnhaftigkeit der Gedenkfeiern überhaupt infrage: "Wenn Gedenken derart ritualisiert wird, hat es mit dem historischen Ereignis nichts mehr zu tun." Das Wissen werde nicht größer, im Gegenteil, geringes Wissen werde dadurch nur verstärkt.

Bei der diesjährigen Befreiungsfeier im ehemaligen KZ Mauthausen nahmen gerade noch 50 Überlebende teil. Die Veranstalter setzen auf die Jugend, die die Erinnerung weitertragen soll.
HARALD SCHNEIDER / APA / picture

Ganz anders bewertet Aleida Assmann die Bedeutung von Gedenkfeiern: "Riten sind der Kern der Erinnerung." Die deutsche Kulturwissenschafterin hat den Begriff des kulturellen Gedächtnisses geprägt. Es sei wichtig, Traditionen an nächste Generationen weiterzugeben. Viele kulturelle Institutionen wie Museen oder Jahrestage bauen auf diesem Übertragungsmechanismus auf. Dass Gedenken ohne Zeitzeugen schwierig ist, glaubt sie nicht. "Man kann auch über Symbole Bewusstsein schaffen."

Auch Sympathisanten als Zeitzeugen

Natürlich hänge die Aufklärung über den Nationalsozialismus nicht von der Existenz der Überlebenden ab, ist der österreichische Historiker Peter Pirker überzeugt. Er fügt hinzu: "Wir dürfen nicht vergessen, dass die übergroße Mehrzahl von Zeitzeugen der NS-Zeit in Österreich Menschen sind, die durchaus positiv mit dem NS-System verbunden waren, als NSDAP-Mitglieder, Wehrmachtssoldaten, BDM- und HJ-Mitglieder et cetera." Diese hätten das familiäre und soziale Gedächtnis der Gesellschaft weit stärker geprägt als Zeitzeugen der Verfolgung und des Widerstands, die ja hauptsächlich medial vermittelt wurden. Insofern könne der Abtritt einer Generation auch neue Zugänge zur Aufarbeitung, etwa von Familiengeschichten, eröffnen. Nur gedenken um des Gedenkens willen sei nicht sinnvoll: "Erinnern erstarrt dann zu Gedenken, wenn der Bezug zur Gegenwart gekappt wird und sich rhetorische Muster etablieren, die nichts mehr mit Reflexion, sondern nur noch mit Repräsentation zu tun haben", warnt der Historiker.

Ein Widerspruch

Diesen Widerspruch hat im Vorjahr der Schriftsteller Michael Köhlmeier in seiner Gedenkrede im Parlament klar angesprochen. "Erwarten Sie nicht von mir, dass ich mich dumm stelle", sagte der Vorarlberger Richtung Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ). Er kritisierte die häufigen blauen Einzelfälle und Kurz' ständiges Betonen des Schließens der Balkanroute. Die Regierungsspitze war empört. Kein Wunder, dass heuer im Parlament der syrische Politikwissenschafter Bassam Tibi sprach. Er dankte dem von ihm so verehrten Kanzler und warnte vor einem importierten islamischen Antisemitismus. Das stieß in den türkis-blauen Reihen im Gegensatz zu Köhlmeiers Worten auf offene Ohren.

Auch wenn sich die Inhalte der Reden ändern, das Ritualisierte bleibt. Kann man nachfolgende Generationen mit dieser Art des Gedenkens überhaupt noch erreichen? Es gebe immer Menschen, die das wenig bis gar nicht interessiert, sagt der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann. Österreich habe einen relativ hohen Anteil an Bürgern, die nicht hier geboren seien, die mit Österreichs Rolle im Dritten Reich nichts verbinde. Andere kämen wiederum aus Staaten, die unter den Nationalsozialisten gelitten hätten. "In welcher Form sollen die mitgedenken?", fragt Liessmann.

Politisches Vereinnahmung

Junge Menschen sagen, sie hätten mit der Vergangenheit nichts zu tun. Für den Philosophen ist das durchaus nachvollziehbar. Es sei Aufgabe der politischen Aufklärung aufzuzeigen, wie relevant die Auseinandersetzung mit der Geschichte für das Verständnis der Gegenwart ist. Denn "die Kehrseite des kollektiven Gedächtnisses ist das kollektive Vergessen", betont er. Es gebe Ereignisse, die allerdings einen derart gravierenden Charakter hätten, dass sie nicht vergessen werden dürften. Aber selbst hier komme es zu unterschiedlichen Akzenten und Betrachtungsweisen. Liessmann nennt den Philosophen Günther Anders, für den neben Auschwitz die Atombombenabwürfe über Japan im Zweiten Weltkrieg einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit darstellten: "Uns ist das höchstens eine Randnotiz wert."

Die Soziologin Assmann beschäftigt sich ebenfalls mit den unterschiedlichen Erzählungen historischer Ereignisse. So auch beim Tag der Befreiung. Steht in Österreich und Deutschland die Dankbarkeit für die Befreiung vom Nationalsozialismus im Zentrum, wurde in Russland das Gedenken über eine Generationenschwelle getragen. Mittlerweile sei es ein identitätsstiftendes Moment für das heutige Russland. Assmann bewertet das skeptisch, denn das Ende des Zweiten Weltkriegs wurde zu einem Bekenntnis zu Putins Politik. Russland feiere sich als unsterbliches Regime.

FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache bei der Einweihung des umstrittenen Trümmerfrauendenkmals in der Wiener Innenstadt. Historiker sprechen von einem falschen Mythos.
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Doch wie wehrt man sich gegen die politische Vereinnahmung von Gedenktagen?

Instrumentalisierte Erinnerung

Für Assmann ist das ein "bedrohliches Anzeichen und ein Austreten aus der gemeinsamen Geschichtserzählung, wenn die Befriedung infrage gestellt wird". In Italien und in Ungarn fördern Innenminister Matteo Salvini bzw. Premier Viktor Orbán die Rückbesinnung auf den italienischen faschistischen Ministerpräsidenten Benito Mussolini und den ungarischen Staatschef und Antisemiten Miklós Horthy.

Der Soziologe Sznaider bewertet das nüchtern: "Es gibt kein emanzipiertes Gedenken, Erinnerung ist immer instrumentalisiert." Das Problem sei nicht die Vereinnahmung durch rechtspopulistische Politiker, sondern die Politik selbst: "Ich kann rechtspopulistischen Politikern nicht vorwerfen, dass sie rechtspopulistische Politik betreiben." Eine Ansicht, die er mit Liessmann teilt: "Man kann es Menschen nicht verwehren, die Vergangenheit der eigenen politischen Ideologie entsprechend zu deuten und das in der Gedenkpolitik umsetzen zu wollen", sagt Liessmann. Mit historischer und politischer Aufklärung müsse aber versucht werden, offenkundig falsche Sichtweisen richtigzustellen.

Auch in diesem Jahr wird versucht, das Gedenken an den Tag der Befreiung aufrechtzuerhalten: In der Wiener Ringstraße werden Porträts von Überlebenden gezeigt.
Foto: Der Standard/Fischer

Im Diskurs sei anstelle einer "Beschwörung einer europäischen Einigung" eine geschichtspolitische Renationalisierung bei rechten bis rechtsextremen Regierungsparteien getreten, sagt der Historiker Pirker. Das werde auch in Österreich sichtbar. Nationalistische Geschichtspolitik kann dann auch seine Tücken haben. "Italien hat mit der Südtirol-Politik der FPÖ keine Freude", nennt der Historiker ein Beispiel.

Voller Hoffnung

Im Mauthausen-Komitee wird inzwischen über künftige Befreiungsfeiern nachgedacht. Willi Mernyi blickt hoffnungsvoll in die Zukunft. Am vergangenen Sonntag seien tausend Jugendliche aus Italien gekommen – bis zu 2.000 junge Menschen aus Österreich: "Von der muslimischen Jugend bis zum katholischen Mittelschülerkartellverband." Das Gedenken werde es daher weiterhin geben – weiterhin ohne FPÖ-Beteiligung, die offiziell seit langem ausgeladen ist. Da könnte aber schon rasch der Druck steigen. Noch ist Karoline Edtstadler (ÖVP) als Innenstaatssekretärin für die KZ-Gedenkstätten verantwortlich. Nach der EU-Wahl wechselt sie nach Brüssel. Wird ihr Job eingespart, wäre dann ein anderer zuständig: Innenminister Herbert Kickl. (Marie-Theres Egyed, Peter Mayr, 8.5.2019)