Musik als verkörperte Abstraktion: "Alles Unnötige bleibt weg", sagt De Keersmaeker.

Foto: Hugo Glendinning

Kurz bevor Anne Teresa De Keersmaeker wieder zu den letzten Proben vor der Londoner Erstaufführung ihrer großen Produktion Die sechs Brandenburgischen Konzerte eilt, sagt sie noch: "Mein Hauptanliegen ist die Lesbarkeit des Stücks."

Daher hat die heute bedeutendste Choreografin Europas zusammen mit 16 Tänzern ihrer Company Rosas und dem belgischen B’Rock Orchestra extrem komplizierte Zusammenhänge in einfache Eleganz übersetzt. Das war harte Arbeit.

STANDARD: Johann Sebastian Bach wirkt wie ein Magnet auf Sie. Warum?

De Keersmaeker: Seine Musik ist einzigartig in ihrer Klarheit als bewegte Architektur – immer extrem strukuriert, aber nie systematisch. Vor allem aber ist sie verkörperte Abstraktion: Alles Unnötige bleibt weg. Meine Annäherung an Bach hat mich zu einem neuen Minimalismus gebracht, zu einer beinahe "ästhetisch-ökologischen" Reduktion bei Kostümen und Bühnenbild, und zu einer Maximierung der Potenziale des Körpers. Die Brandenburgischen Konzerte wirken als echte Herausforderung, über die Tiefenanalyse der Musik eine choreografische Antwort auf die klaren, aber komplexen Kontrapunkte zu geben.

STANDARD: Was ist dabei der emotionalisierende Aspekt??

De Keersmaeker: Der "genetische Code" der Musik enthält die Erinnerung an menschliche Erfahrung, die man als Zuhörer erkennt: Traurigkeit, Jubel, Melancholie, Rache, sogar Humor. Die Brandenburgischen Konzerte sind für mich wie eine Einladung zum Tanz. Ich habe versucht, Raumsysteme und ein Tanzvokabular zu finden, die direkt darauf antworten, sodass das Publikum die Komplexität dieser Musik klar lesen kann.

STANDARD: Wie reagieren Sie als Choreografin auf die Musik?

De Keersmaeker: Bach hat in damals absolut unüblichen Formen damit experimentiert, was ein Konzert sein kann, oder stellte nichtsolistische Instrumente in den Vordergrund. Und ich verbinde etwa ein spezifisches Instrument mit einem bestimmten Tänzer, entwickle aber zugleich auch ein von der Musik unabhängiges Tanzvokabular. So wird die Musik zu meiner Partnerin, der ich mich nicht unterordne. Meine anderen Partner sind die Tänzer. Deren Einfluss ist extrem wichtig, wenn es darum geht, eine zeitgenössische Antwort auf Bachs Musik zu geben.

STANDARD: Sie haben auch mit dem berühmten Alphabet des französischen Philosophen Gilles Deleuze gearbeitet?

De Keersmaeker: Ja, sein "abécédaire" bringt ein geheimes Narrativ in die abstrakte choreografische Form. Im Stück wirken Geometrie, Körper-Kodes und die Vorstellungskraft der Tänzer in deren Verständnis des "abécédaire". Das ergab einen weiten Ideenraum und hat die Tänzer miteinander verbunden.

STANDARD: Wie haben Sie die Tänzerinnen und Tänzer zusammengestellt?

De Keersmaeker: Ein wichtiges Statement speziell in diesem Stück ist, dass darin verschiedene Generationen zusammen auftreten. Ich habe die Fähigkeiten sehr erfahrener Rosas-Tänzer gebraucht. Und passend zur Musik tanzen junge Tänzer, die an der Entwicklung beteiligt waren, führende Rollen im Stück. (Helmut Ploebst, 2.6.2019)