Autor Michel Houellebecq (höchstwahrscheinlich 63 Jahre alt), Schöpfer von sieben Romanen, wird im Sommer nach Österreich reisen, um den Staatspreis in Empfang zu nehmen.

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Mit großer Geste zieht die österreichische Staatspreisjury vor Michel Houellebecqs Schöpferkraft den Hut. Die Texte des französischen Romanciers, heißt es in ihrer Urteilsbegründung, verrieten ein "besonderes Sensorium für Fragen von gesellschaftlicher Sprengkraft, wobei er den Konjunkturen des Feuilletons stets vorausgeeilt ist".

Kulturminister Gernot Blümel (ÖVP) gratulierte dem Autor prompt: "Er schreibt klar, kompromisslos und präzise über Themen, die unsere europäische Gesellschaft bewegen…" Aus Blümels Händen wird Houellebecq den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur am 26. Juli überreicht bekommen. Der Preis, den zuletzt Karl Ove Knausgard und Zadie Smith erhielten, ist mit 25.000 Euro dotiert.

Es ist die Hellsichtigkeit, derentwegen man einem notorischen Einzelgänger die Fähigkeit zumisst, die Signatur der Zeit zu erkennen und in erzählerische Panoramen zu übertragen. Die Jury (u. a. bestehend aus Claudia Romeder, Daniela Strigl und Benedikt Föger) versammelt zur Begründung einen Themenkatalog, der jedem erfolgreichen Betreiber einer Nachrichtenagentur zur Ehre gereichen würde. Die Arbeitsrealität habe der Autor beschrieben, den Verlust der Anschaulichkeit in Sphären, die vom Diktat des Marktes beherrscht werden.

Dilemma der Liebe

Houellebecq erörterte zum Beispiel in Elementarteilchen (1998) die Chancen der Gentechnik. Er hob die Gefahren des religiösen Fanatismus hervor, und er durchschaute frühzeitig den Warencharakter der Liebe. Man hat den je nach Überlieferung 1956 oder 1958 auf La Réunion geborenen Houellebecq gelegentlich als Pornografen missverstanden. Dabei hat er nur explizit das Dilemma beschrieben, das aus der Ökonomisierung der Libido erwächst: Man langweilt sich erotisch zu Tode und fühlt sich dennoch verpflichtet, seinen Mann zu stehen.

Der Kettenraucher, der sorgsam sein Clochard-Image pflegt und für sein Leben gerne provoziert, hat die unterschiedlichsten Aspekte der Lebensrealität aufgespießt. Von seiner Feder tropft die Tinte des Zynismus. Dabei steht dieser Aufklärer wider Willen fest auf dem Boden der Tradition: Von Diderot und Voltaire hat er die Verpflichtung übernommen, Trostangeboten zu misstrauen. Houellebecqs Bücher belehren darüber, dass das Verschwinden des Freiheitsgespenstes nicht weiter tragisch ist.

Der Skandalton von Céline

Als Anfang des Jahres sein letzter Roman Serotonin erschien, rührte er die Werbetrommel, indem er die Fähigkeiten von US-Präsident Trump pries. Houellebecqs Verdienst liegt auch in der Wiedergewinnung eines verlorenen Tons. Nach Ausweitung der Kampfzone dachte man noch an eine Wiederbelebung von Camus. In Wahrheit borgt sich Houllebecq die Narrenkappe bei Louis-Ferdinand Céline, dem anderen skandalösen Einzelgänger der französischen Literatur. Goss dieser Unrat auf die Zivilisation, so zuckt sein jüngerer Bruder im Geiste die Achseln. Dann fantasiert er die Übernahme der politischen Macht in Frankreich durch die Muslime herbei (Unterwerfung erschien am Tag des Anschlags auf Charlie Hebdo). Oder er besingt depressiv den Untergang unserer ländlichen Kultur. Houellebecqs Literatur bleibt, weil sie jede Systematik entbehrt, widersprüchlich. Das ist, zwei Wochen vor den Wahlen zum EU-Parlament, ein gutes, postideologisches Zeichen. Es wird der Rechten nicht gelingen, ihn für sich zu vereinnahmen. (Ronald Pohl, 8.5.2019)