Mindestens eine Produktion pro Jahr muss in einem Krisengebiet geprobt werden: der Schauspieler Johan Leysen in Mossul.

Foto: Stefan Blaeske

Milo Rau wollte als Kind Kriegsreporter werden. Und irgendwie hat er es auch geschafft. Mit seinem Stück Orest in Mossul ist der Schweizer Theaterregisseur, der seit dem Vorjahr das Nationaltheater Gent leitet, seinem Traum sehr nahe gekommen. Immer wieder zieht es den Künstler an Schauplätze, an denen Menschenleben aus Kriegs-, Terror- oder Repressionsgründen aus den Angeln gehoben werden: nach Rumänien (Die letzten Tage der Ceausescus), in den Kongo (Kongo Tribunal) oder nach Belgien, wo er den Fall des Kindermörders Marc Dutroux aufgegriffen hat (Five Easy Pieces).

"Mich interessiert als Künstler in erster Linie eine völlig praktische, völlig reale Involviertheit" sagt Rau in seinem neuen Buch Das geschichtliche Gefühl (Alexander-Verlag 2018), das sein Theaterverständnis umreißt. Konkretisiert hat er dies unter Getöse im Vorjahr mit dem Genter Manifest, das er sich und seinem Team im Vorfeld seiner Intendanz verordnet hat.

Einer der provokant formulierten Ansprüche lautet zum Beispiel: "Die wörtliche Adaption von Klassikern auf der Bühne ist verboten."

Proben in der IS-Hochburg

Den Diskussionen um Her ausforderungen an das Stadttheater – Repräsentation, Diversität, Abgehobenheit etc. – leistete Milo Rau mit seinem Zehn-Punkte-Plan Vorschub. Nummer neun der Vorgaben: "Mindestens eine Produktion pro Saison muss in einem Krisen- oder Kriegsgebiet ohne kulturelle In frastruktur geprobt werden."

Orest in Mossul erfüllt diese Forderung exakt. Zwei Wochen lang probte ein flämisch-deutsch-irakisches Ensemble in Mossul, der ehemaligen IS-Hochburg im Norden des Irak, an einer Umsetzung der grausamen antiken Trilogie der Orestie von Aischylos. Die Uraufführung wurde vor Ort realisiert.

Bei der Europapremiere am Nationaltheater Gent Mitte April konnten die irakischen Spieler nur über Videoaufzeichnungen dabei sein. Keine Chance auf ein längeres Visum. Für die Termine in Wien ist dies noch offen. Vorläufig greifen bei Orest in Mossul also Livespiel und Videoprojektion ineinander; der Genter Premierenabend wurde zum Ausdruck dieser unüberbrückbaren Distanz.

Vom Mythos zur Gegenwart

Die Inszenierung ist demnach auch ein Dokument ihrer eigenen Entstehung: Die persönlichen Bezüge der Schauspieler sind zentral. Johan Leysen (Agamemnon) etwa schlägt als Archäologie-Fan eine Brücke vom antiken Mythos bis zum Mossul der Gegenwart, das einst Ninive hieß. Susana Abdul Majid (Kassandra) berichtet von den Eltern, die aus Mossul stammen und die stets von dessen früherer Schönheit schwärmen.

Vor allem aber sind es die irakischen Schauspieler, die synchron zum blutrünstigen Rachedrama der Orestie ihre Geschichte mit den Mördern des IS erzählen und diesen nicht – wie es im Stück am Ende Athene mit Orest tut – verzeihen können.

Durch das Paar Orest und Pylades wird das Thema Homosexualität zum Brennpunkt der Probenarbeit. Khitam Idris Gamil (Athena) lehnt gleichgeschlechtliche Liebe als "haram" ab. Da trifft – ganz nach Raus Absicht – die künstlerische Arbeit mitten hinein in eine hochpolitische Gegenwart. (Margarete Affenzeller, 5.6.2019)