Im Kerker der Justiz warten bei Krystian Lupa schon viele Ungehorsame mit zugeklebten Mündern.

Foto: Magda Hueckel

Lange hat Krystian Lupa um die Werke Kafkas einen Bogen gemacht. Er ackert sie zwar mit seinen Studierenden durch, inszeniert hat er sie aber nicht. Denn Kafkas Welt triefe vor Hoffnungslosigkeit, erzählt der polnische Regiegroßmeister. "Nachdem mich die Wirklichkeit hier immer mehr an Kafka erinnerte, habe ich beschlossen, jetzt ist es an der Zeit, Kafka zu machen."

Gesagt, getan. Krystian Lupa nimmt sich weidlich Zeit für sein Ansinnen, aus Kafkas 1925 erschienenem Roman Der Prozess Funken fürs Heute zu schlagen. Fünfeinviertelstunden dauert der Abend, der gleich mit aktuellen Referenzen beginnt: In einem kleinen Fernseher auf der kargen Bühne tagt eine Talkshow zum Thema Richterablöse in Polen. Ein Diskutant tut kund, er glaube nicht, dass so viele Richter ihrer Arbeit unfähig seien. Als Bürger eines vermeintlichen Rechtsstaats ist auch Josef K. vor den Kopf gestoßen, als zwei Männer ihn nachts unter Hausarrest stellen. Warum? Dürfen sie ihm nicht sagen. Durch das Fenster tönen aus den Straßen Polizeisirenen.

Österreicher faszinieren ihn

"Die heutige Situation in Polen treibt einen förmlich dazu, pessimistisch zu sein. Es wird so viel zerstört, was in den letzten 30 Jahren gesellschaftlich aufgebaut wurde. Es herrscht jetzt wieder eine Atmosphäre geistiger Enge", sagt Lupa. Dementsprechend verfallen wirkt die Bühne, die Dialoge tropfen schwer, ein Richter verleiht sich mit dem Maurerhammer Gehör. Ihr könnt mir alles nehmen, aber nicht die Würde, belehrt Josef K. den Korrupten. Lupas Proces zeichnet eine bedrückende Welt. Musik von Astor Piazzolla sorgt für romantische Spannung und Dramatik.

Eigentlich sollte das Stück 2016 in Breslau Premiere feiern. Die Neubesetzung des dortigen Theaterdirektors mit einem der PiS-Regierung genehmen Kandidaten trieb Lupa aber zum Protest. Schließlich fanden sich vier freie Theater in Warschau, wo die Regierungspartei PiS nicht die Mehrheit hat, die gemeinsam die Finanzierung stemmen konnten.

Seit Herbst 2017 läuft dort der Proces und tourt von Festival zu Festival. Lupa will nicht Kafkas Text illustrieren, sondern mit jenem "in einen Diskurs treten". Dazu erweitert er ihn um die Beziehungskrise Kafkas mit Felice Bauer, nach der er die Arbeit am Prozess aufnahm, und öffnet ihn in die Gegenwart: Nachdem ein Schauspieler auf dem Weg zur Probe an einem Mann vorbeikam, der sich aus Protest gegen Polens Regierung anzündete, floss das ins Stück ein.

Lupa versucht bei jeder Vorstellung, die Darsteller mittels Lautsprecherdurchsagen anzuspornen. In Wien will er das auf Deutsch tun. Österreichische Autoren faszinieren Lupa nicht nur, weil er die Sprache kann, sondern sie "zeigen den Menschen mit seiner Widersprüchlichkeit. Ein tieferes Verständnis ist die einzige Möglichkeit, der Hassfalle zu entkommen." (Michael Wurmitzer, 17.5.2019)