Bei den Gelbwesten-Protesten in Frankreich wurde zuletzt die Kritik an der ENA laut.

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Etwas für sein Land tun. Es brauche eine starke Motivation wie diese, um die Aufnahmeprüfung für die École nationale d’administration (ENA) in Straßburg durchzustehen. Das sagen zumindest Henri Bernard und Louis Dumont (Namen von der Redaktion geändert), die dort vor wenigen Jahren studiert haben. Als angehende Funktionäre wollen sie anonym bleiben, da es sich nicht schicke, Entscheidungen des Präsidenten zu kommentieren.

Ein Jahr lang büffelten sie für einen Prüfungsmarathon, bei dem 95 Prozent ausscheiden. "Das hätte ich nicht für irgendeinen Chef gemacht. Natürlich wollte ich etwas für meine Karriere tun. Aber mir ging es auch darum, Frankreich zu dienen", sagt Dumont.

Kaderschmiede für Staatsspitze

Die ENA ist eine berüchtigte Kaderschmiede für die Spitzenbeamten in Staat und Verwaltung. Wer wie Bernard und Dumont einen der begehrten Plätze ergattert – zuletzt bewarben sich 1500 Anwärter für 80 Plätze –, kann sicher sein, später einen gutbezahlten Job zu haben. Mit der Inskription erhalten Studierende den Beamtenstatus, beziehen Gehalt und verpflichten sich, zehn Jahre lang im öffentlichen Dienst zu arbeiten. Die Verwaltungshochschule ist eng mit dem Staat verflochten: Je nachdem wie gut sie abschneiden, werden Absolventen automatisch in Ministerien, Behörden und Gerichten übernommen – und machen dort zügig Karriere.

Absolventen der ENA dominieren auch die Politik: Präsident Emmanuel Macron machte dort 2004 seinen Abschluss. Die Hochschule brachte bisher vier Präsidenten, dutzende Minister und Staatssekretäre hervor. Seit 1974 gab es keine Präsidentschaftsstichwahl ohne ENA-Absolventen.

Die Abgänger erfreuen sich überdies großer Beliebtheit in der Wirtschaft: Der Chef des Telekom giganten Orange Stéphane Richard und jener der Großbank Société Générale Frédéric Oudéa etwa haben die Hochschule absolviert. Oft sind Unternehmen bereit, die fünf- bis sechsstellige Summe zu zahlen, die bei vorzeitiger Auflösung der Bindung an den Staat fällig ist, um Absolventen einzustellen.

"Staatsadel" und "Korpsgeist"

Gegründet wurde die ENA 1945 von Charles de Gaulle. Nach dem Krieg sollte mit ihr der Zugang zu den leitenden Positionen im neuen französischen Staat demokratisiert werden. Die allein aufgrund einer Aufnahmeprüfung erfolgende Auswahl sollte die Karrieren für Personen aller sozialen Schichten öffnen.

Heute scheinen diese Ziele in weiter Ferne. Nur 4,4 Prozent der Studierenden sind Arbeiterkinder, zwei Drittel kommen aus Familien mit leitenden Angestellten, deren Eltern nicht selten selbst diese Schule besucht haben. Schon in den Achtzigern sprach der Soziologe Pierre Bourdieu von "Staatsadel" und "Korpsgeist" in Bezug auf die Absolventen der ENA und anderer "grandes écoles". Sie gelten als geschlossenes Netzwerk, in dem man sich Spitzenposten zuspielt.

Durch die Gelbwesten gerieten die ENA und ihre Absolventen weiter unter Beschuss. Die Bewegung sieht in der Hochschule die Brutstätte einer Beamtenkaste, die von Paris aus das Land regiere und die Nöte der Menschen vor Ort nicht kenne. Zahlreiche Bürger forderten ihre Abschaffung.

Macron kündigte Schließung an

Ende April ging Präsident Macron auf die Protestierenden zu. Er kündigte die Schließung der ENA an. Und machte sich die Kritik zu eigen, die er zuvor zurückwies: Die ENA fördere schematisches Denken, es müsse Schluss sein mit dem Karriereautomatismus. Die Beamten spiegelten nicht die Vielfalt der Gesellschaft wider.

In den Augen von Bernard und Dumont betreibt Macron damit "institutionellen Vandalismus", die ENA müsse als Sündenbock für andere Probleme herhalten. Mit ihr schließe er die Schule der Republik, einen "französischen Mythos", sagt Bernard: "Dort studiert zu haben verleiht Prestige, das kein Gehalt aufwiegt." Auch darum würden sich viele Studierende dafür entscheiden, obwohl sie in der Privatwirtschaft mehr verdienen könnten als im Staat.

Dem Vorwurf, bei den Absolventen handle es sich um abgehobene Technokraten, widersprechen beide. Eines der beiden Jahre der Ausbildung verbringen die Studierenden in Praktika in Firmen, Botschaften und Ämtern. Dabei bekomme man es mit konkreten Problemen vor Ort zu tun, sagt Dumont, der etwa bei der Reorganisation der Feuerwehr involviert war.

Frühere Selektion

Die Selektion finde schon viel früher statt, sagt Bernard. Typischerweise seien bei der Aufnahmeprüfung Kandidaten erfolgreich, die zuvor an besseren Unis studiert hätten. In den vergangenen Jahrzehnten habe sich die Aufnahmeprüfung der ENA kaum verändert, der Anteil an Arbeiterkindern sei im Vergleich zu den 1950er Jahren sogar niedriger.

Macron hat klargemacht, dass er die ENA durch eine Nachfolgeeinrichtung ersetzen möchte. Wie sie aussehen soll, ist unklar. Nach dem Vorbild der Pariser Militärakademie ist offenbar angedacht, dass nicht mehr frische Hochschulabgänger ausgebildet werden, sondern Funktionäre, die bereits Berufserfahrung haben.

Im Auftrag von Macron soll Frédéric Thiriez, Anwalt und Ex-Chef der französischen Profifußballliga, Vorschläge für eine Reform des öffentlichen Dienstes ausarbeiten. Übrigens: Auch er ist ENA-Absolvent, von 1977. (Miguel de la Riva, 10.5.2019)