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Alleinerzieherinnen beziehen öfter Mindestsicherung.

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Nicht alle Menschen, die Mindestsicherung beziehen, sind auch tatsächlich in einer Notlage. Das ist ein Faktum. Wie viele Menschen Geld vom Staat erhalten, obwohl sie sich einen Job suchen könnten, weiß niemand. Seriöse Untersuchungen dazu gibt es nicht.

Trotzdem wurde die Neuregelung der Mindestsicherung, die jetzt wieder Sozialhilfe heißt, unter anderem damit begründet, dass es sich zu viele Menschen in der sozialen Hängematte gemütlich gemacht hätten. Die türkis-blaue Koalition hat die Mindestsicherung für Familien mit drei oder mehr Kindern gekürzt. Auch Migranten, die nicht gut Deutsch sprechen, bekommen weniger.

Dabei haben in Österreich zehntausende Menschen die Mindestsicherung gar nicht in Anspruch genommen, obwohl sie alle Voraussetzungen erfüllten. Das zeigt eine neue Studie von Forschern unter Leitung des Soziologen Michael Fuchs vom Europäischen Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung in Wien.

Fuchs und seine Kollegen stützen ihre Berechnungen auf Daten aus einer Erhebung der Statistik Austria. Dabei werden jährlich Befragungen in 6.000 Haushalten über die Lebensbedingungen der Menschen durchgeführt.

70 Prozent stellten Antrag

Auf Basis dieser Ergebnisse haben Fuchs und seine Kollegen hochgerechnet, wie viele Haushalte in Österreich Anspruch auf Mindestsicherung gehabt haben. Um die Sozialleistung zu beziehen, darf das Haushaltseinkommen zum Beispiel gewisse Grenzwerte nicht überschreiten. Das eigene Vermögen muss zudem aufgebraucht sein. Davon gibt es nur wenige Ausnahmen, etwa für das selbst bewohnte Eigenheim mit "angemessener" Größe.

Die Forscher rund um Fuchs haben verglichen: Wie viele Menschen könnten Mindestsicherung beziehen – und wie viele tun es tatsächlich? Ergebnis: Rund 73.000 Haushalte hätten Anspruch, nutzen ihn aber nicht. Nur 70 Prozent der bezugsberechtigten Haushalte nutzen die Mindestsicherung.

Wer anonym bleiben kann

Was sind die Gründe dafür, dass 30 Prozent nichts beantragen? Dafür gibt die Studie lediglich Anhaltspunkte. Die Wissenschafter konnten nämlich nur analysieren, ob bestimmte Merkmale eher dafür sorgen, dass jemand Mindestsicherung in Anspruch nimmt. So nutzen Menschen eher das soziale Netz, wenn sie in einer Stadt leben. Das gilt besonders für Wien.

Mehr Anträge gibt es aber auch in größeren Städten wie Graz oder Linz und auch in Gemeinden mit über 10.000 Einwohnern. Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen, so Fuchs. Menschen, die Scham dabei empfinden, eine Sozialleistung zu beziehen, können sich in einer größeren Stadt eher sicher sein, dass sie anonym bleiben.

Hinzu kommt, dass die Informationen darüber, was genau wie beantragt werden kann, in Städten besser sein dürften. Auch ärmere Haushalte mit weniger verfügbarem Einkommen nutzen Sozialhilfe tendenziell öfter. Die meisten Bezieher der Mindestsicherung, gut 70 Prozent, sind Aufstocker. Das heißt, sie stocken Einkommen aus anderen Quellen, etwa aus einem Job oder der Arbeitslosenhilfe, via Mindestsicherung auf.

Auch Alleinerzieher nutzen die Sozialhilfe öfter. Wer im eigenen Haus wohnt, stellt dagegen seltener einen Antrag. Das mag auf die begründete oder unbegründete Furcht zurückzuführen sein, das Eigenheim zu verlieren, so die Studienautoren.

In den Daten zeigt sich auch, dass Migranten aus Drittstaaten, also aus Nicht-EU-Ländern, die Mindestsicherung eher in Anspruch nehmen als Österreicher oder andere EU-Bürger. "Allerdings ist dieser Zusammenhang nicht statistisch signifikant", sagt Fuchs. Ob es einen echten Konnex gibt, könne er deshalb nicht sagen, vielleicht sei es auch nur Zufall in der Stichprobe.

Früher weniger Bezieher

Eine andere Erkenntnis ist dafür gesichert: Die Mindestsicherung wird von mehr Menschen in Anspruch genommen als die alte Sozialhilfe.

Die Daten der aktuellen Untersuchung basieren auf der Erhebung der Statistik Austria im Jahr 2016 und bilden das Jahr 2015 ab. Der Soziologe Fuchs hat bereits früher in einer alten Studie analysiert, wie die Situation 2009 war. Damals gab es in Österreich noch die alte Sozialhilfe. Diese wurde häufiger von Menschen nicht beantragt, obwohl Anspruch bestanden hätte. Rund die Hälfte der Bezugsberechtigten nutzte die Sozialhilfe nicht. "Die Mindestsicherung hat damit einen stärkeren Beitrag zur Armutsreduktion geleistet", sagt Fuchs.

Ein Grund für die höhere Inanspruchnahme dürfte sein, dass die Mindestsicherung höher ist als die frühere Sozialhilfe. Im alten System mussten sich Empfänger von Sozialhilfe mit einem gelben Formular des Sozialamtes beim Arzt anmelden. Der soziale Status war für alle ersichtlich. Die Mindestsicherung brachte Zugang zur E-Card. Und die Sozialhilfe konnte früher nur bei der Wohnsitzgemeinde beantragt werden, die Mindestsicherung dagegen auch anonymer bei der Bezirksverwaltungsbehörde. (András Szigetvari, 9.5.2019)