Links der Schädel eines Homo antecessor, rechts eine Rekonstruktion auf Basis dieses Schädels. Vertreter dieser frühen Menschenart ernährten sich auch kannibalisch.

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Der Homo antecessor lebte vor rund 900.000 Jahren im nördlichen Spanien und existierte in Europa annähernd gleichzeitig mit dem nahe verwandten Homo heidelbergensis, der wiederum als Vorfahre des Neandertalers gilt. Beide Menschen-Spezies gingen aus dem Homo erectus hervor. Ob es sich bei diesen Menschenarten tatsächlich um eigenständige Spezies handelt, ist nach wie vor umstritten – die entsprechenden Funde lassen jedenfalls keine eindeutigen Schlüsse zu.

Bekannt ist der Homo antecessor vor allem, weil er offenbar nicht davor zurückschreckte, seine eigenen Artgenossen zu verzehren: Kannibalismus dürfte in seiner Kultur kein Tabu gewesen sein. Die Gründe für diese grausige Praxis waren bisher allerdings mysteriös. Um dieses Rätsel zu lösen, hat ein Team um Jesus Rodriguez vom Nationalen Forschungszentrum für Menschheitsgeschichte im spanischen Burgos die Gran Dolina-Höhle nördlich der Stadt Burgos näher unter die Lupe genommen.

Gehäutet und entbeint

Die dort freigelegten Fossilien, die großteils dem Homo antecessor zugeschrieben werden, lieferten zahlreiche Belege für Kannibalismus. "Die Körper der Menschen wurden gehäutet, ausgeweidet und auch entbeint", erklärt Rodriguez. "Außerdem wurden die Langknochen aufgebrochen, um das Knochenmark zu verzehren." Darüber hinaus belegen auch Bissspuren, dass Kannibalismus betrieben wurde. Letztlich zeigen die im "Journal of Human Evolution" präsentierten Funde, dass Homo antecessor seine menschlichen Opfer offenbar vollständig verwertet hat.

Das rätselhafte daran ist, dass Hunger den Homo antecessor vermutlich nicht zum Kannibalismus verleitet hat. Zahlreiche Tierknochen, die in der selben Fundschicht der Höhle freigelegt wurden, wie die von menschlichen Bissspuren gezeichneten Menschenknochen, lassen vermuten, dass ausreichend Wild in der Umgebung vorhanden war. Die Forscher rund um Rodriguez errechneten aus den tierischen Gebeinen der entsprechenden Schicht sogar, dass etwa 20 Menschen gut drei Monate lang vom Fleisch dieser Wildtiere gelebt haben dürften.

Mehr noch: Verglichen mit der in der Region vermuteten Beutetierdichte wurden offenbar proportional mehr Menschen als Tiere verzehrt. Offensichtlich waren die Menschen mit voller Absicht als Nahrung ausgewählt worden.

Geringerer Jagdaufwand

Wer bei diesen Frühmenschen als Nahrung geendet hat, lässt sich letztlich aufgrund der Befunde schwer sagen. Den Berechnungen der Wissenschafter um Rodriguez zufolge, spielte möglicherweise das Verhältnis zwischen Jagdaufwand und dem zu erwartenden Kaloriengehalt eine Rolle. So gesehen wären wehrhafte Beutetiere wie Hirsche weniger attraktiv wie junge, schwache menschliche Opfer. Das würde jedenfalls zu den archäologischen Funden passen.

Die bisherigen Untersuchungen lassen letztlich wenig Zweifel daran, dass die prähistorischen Bewohner der Dolina-Höhle dereinst regelmäßig ihresgleichen auf dem Speiseteller hatten. Ob sie ihre Artgenossen jedoch auch extra für ihre Ernährung getötet haben, ist eine andere Frage. "Die einfachste Erklärung könnte sein, dass die Opfer zur gleichen Gruppe wie die Kannibalen gehörten und eines natürlichen Todes starben", sagt Rodriguez. Möglicherweise hat sich Homo antecessor den frühen Tod einiger seiner jungen Gruppengenossen zunutze gemacht und damit seinen Jagdaufwand verringert. (tberg, 12.5.2019)