Duyi Kol, 35, ist jetzt zufrieden.

Foto: Katharina Kotrba

Momentan macht sie in Sydney Station. Sie hat ihr altes Leben hinter sich gelassen.

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Statt Geld und Klamotten sammelt sie nun Begegnungen und Erfahrungen – viele davon auf Polaroids gebannt, versammelt am Armaturenbrett ihres VW Bully. Der Bully dient ihr als Unterkunft.

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Duyi vor ihrem mobilen Zuhause – mit Surfbrett. Denn das ist ihre neue Leidenschaft.

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Mit weniger auszukommen stört sie nicht. Auf keinen Fall will sie in ihr altes Leben zurück.

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Dass manche ihrer Freunde sie für verrückt halten, stört Duyi absolut nicht.

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Die Sonne schickt vorsichtig ihre ersten warmen Strahlen über den Horizont, taucht die rauschenden Wellen am weißen Strand in ein goldenes Licht. Die Wolken am Himmel verfärben sich in ein strahlendes Orange. Duyi Kol räkelt sich im Bett, fährt sich durch die dunklen Locken und streckt sich genüsslich. Oben in den Wipfeln der Dattelpalmen kreischen grüne Lorikeet-Papageien wie wild um die Wette. "Viel besser als jeder Wecker. Wer möchte so nicht aufwachen?", fragt Duyi, rollt sich auf die Seite und öffnet mit einer Hand die quietschende Seitentür: "Willkommen in meinem neuen Zuhause."

Ihr Zuhause ist Baujahr 1984, viereinhalb Meter lang, knapp zwei Meter breit, mit vier Rädern unter dem Fußboden, Rost an der Stoßstange und braunem Lack, der an vielen Stellen abblättert. Aber im Inneren entpuppt der alte VW Bulli seinen ganzen Charme. Sein Vorbesitzer war Tischler, er hatte den Caravelle GL vom einfachen Transporter zum Wohnwagen umgebastelt. Sitzbank, Kühlschrank, Herdplatte und einige Regale als Stauraum – alles da, was man zum einfachen Leben braucht. Er steht jeden Tag auf einem anderen Traumplatz. Heute am Cronulla Beach, an der Ostküste von Australien, eine Stunde südlich von Sydney.

Häkeldeckchen auf dem Kühlschrank

Auf dem Armaturenbrett kleben Polaroids von Freunden. Sie zeigen strahlende Gesichter, Strandaufnahmen, Palmen und Sonnenuntergänge. Hinter dem Fahrersitz hängt ein geflochtener Strohkorb mit Haarbürste, Bodylotion, einer Zahnbürste und drei Tiegeln Kosmetika. "Mein Badezimmer", sagt Duyi. Daneben ein weiterer Korb mit Kameras und einem türkisen Lautsprecher mit USB-Anschluss zum Musikhören, Aufladen des iPhones und Betreiben des Mini-Ventilators – alles solar- und batteriebetrieben. Dazwischen thront ein kleiner, grüner Efeu. Richtig gemütlich. "Schau mal, die ist sogar schon ein ganzes Stück gewachsen", freut sich die gebürtige Schwäbin beim Blick auf ihre Pflanze und rückt gleichzeitig ein Häkeldeckchen auf dem eingebauten Kühlschrank zurecht.

Ihr Plan an diesem Morgen? "Erst mal surfen gehen. Meine große Liebe." Oft vergisst sie die Zeit und verbringt Stunden im Wasser. "Ich trage keine Uhr. Ich möchte auch gar nicht wissen, wie spät es ist. Wenn ich draußen im Meer bin, bin ich in meinem Element", sagt die 35-Jährige. Nur ein knurrender Magen oder schlechtes Wetter bringen sie zurück an Land.

Burnout und Sinnfrage

Duyis "Umzug" nach Australien passierte ganz plötzlich. Sie hatte zu Hause im Remstal bei Stuttgart eigentlich alles, was das Herz begehrt. Eine tolle Beziehung, einen guten Job in der Fashionbranche und ein schickes Penthouse-Apartment. "Mein acht Meter langes Ankleidezimmer war prall gefüllt mit Anziehsachen. Unglaublich, wenn ich daran zurückdenke." Im Jahr 2015 kam dann der arbeitsbedingte Burnout: Tinnitus, Depression, kreisrunder Haarausfall. "Ich habe mich im Spiegel angeschaut und gedacht: Du könntest eigentlich auch tot sein."

Im Bekanntenkreis drehte sich zudem alles nur noch um die nächst größere Wohnung, die besten Schulen für Kinder, wer wann und wo den schöneren Urlaub in welchem teuren Fünf-Sterne-Hotel macht. "Ich wurde selbst komplett materialistisch. Welche Handtasche zu welchem Outfit? Welches Kleid brauche ich noch? Und irgendwann habe ich festgestellt: Ich will das alles nicht", erinnert sich Duyi. Mit Blick auf die Zukunft bekam sie Panik.

Einfach nur weg

Sie packte einen Rucksack, wollte einfach nur raus. Sie flog für zwei Wochen nach Bali, eine Freundin besuchen. "Dort merkte ich: Das Leben ist so schnell vorbei, was mache ich eigentlich?" Zurück in der Heimat fragte Duyi ihren Partner, ob er mit ihr das alte Dasein hinter sich lassen und ein einfacheres, neues Leben aufbauen möchte. Aus persönlichen Gründen wollte er nicht, somit trennten sich die beiden im Guten, und Duyi zog allein los. Sie begann ihre lange Reise mit Stationen in Hongkong, Vietnam, Kambodscha, Japan, Mexiko, Neuseeland und letzten Endes Australien.

Während sie erzählt, faltet Duyi ihre Matratze zusammen, nimmt zwei Holzbretter zur Seite und verwandelt so ihr Schlafzimmer mit ein paar Handgriffen in ein gemütliches Wohnzimmer mit Polstern und Sitzbank. "Ich kann dir ja auch mal die Küche zeigen", sagt sie enthusiastisch und klappt eine gasbetriebene Kochplatte hinter dem Beifahrersitz hervor. "Cool, oder? Aber ich koche, ehrlich gesagt, sehr ungern. Keine Lust", gesteht sie und lacht.

Wochenlang surfen

Wann war sie nach dem Burnout das erste Mal wieder glücklich? Duyi überlegt kurz, sortiert ihre drei Bikinis, die am Türgriff vom Van trocknen, und meint dann: "Als ich all mein Hab und Gut verscherbelt hatte und nur noch mit einem Rucksack unterwegs war – ich fühlte mich endlich so frei von allen Fesseln. Ich wusste: Das war die beste Entscheidung meines Lebens." Für Duyi ist ihre minimalistische Lebensweise sehr radikal und vielleicht auch deswegen so wirkungsvoll. "Ich vermisse gar nichts. Ich besitze jetzt zum Beispiel nur noch vier Paar Schuhe. Dabei laufe ich die ganze Zeit eh nur barfuß herum."

Sie lebt von ihren Ersparnissen und holt sich Jobs, wenn sie Bedarf hat. Nach acht Monaten Arbeitspause hilft sie jetzt sechs Monate bei einem Projekt einer Baufirma in Sydney. "Meine Freunde meinen immer, ich arbeite überhaupt nicht, aber das ist auch nicht ganz wahr. Bei mir stimmt halt nur die Work-Life Balance. Life geht bei mir vor." Ihr Lebensunterhalt ist noch dazu sehr gering – keine Miete, keine Stromrechnungen, nicht einmal einen festen Handyvertrag muss Duyi monatlich bezahlen. "Da kann man schon mal wochenlang einfach nur surfen gehen."

Traum vom Wasser

Lebensverändernd war auch ihre Zeit in Neuseeland. Dort lernte sie vor drei Jahren surfen. Noch bevor sie jemals auf einer Welle ritt, träumte sie schon davon: "Ich hatte immer wieder diesen seltsamen Traum von Wasser und dass ich wie auf einer Welle schwebe. Als ich zu surfen begann, realisierte ich: Das war es, wovon ich immer geträumt hatte." Vom Anfänger entwickelte sie sich in den letzten drei Jahren zum Profi. Was ihr manchmal zum Verhängnis wird. Auf ihrem rechten Bein prangen heute große, blaue Flecken und eine tiefe Fleischwunde: Ein Surfer ahnte nicht, dass Duyi eine gute Wellenreiterin ist, nahm ihr bei einer großen Welle die Vorfahrt, unter Surfern auch "Drop-in" genannt. Es kam zum Crash.

"No big deal", meint Duyi, kein Problem. Nur sollte die Wunde eigentlich drei Wochen trocken gehalten werden, um zu heilen. "Ich schaffe es aber nicht, auch nur einen Tag aufs Surfen zu verzichten, da muss die Wunde jetzt durch."

Selbsterfahrung

Ängste oder Einsamkeit kommen bei Duyi nie auf. "Ich bereue keine Sekunde, dass ich alles aufgegeben habe. Im Gegenteil – ich bin glücklicher als je zuvor und habe auf meinen Reisen so wunderbare Menschen kennengelernt. Ich sammle jetzt lieber Begegnungen und Erlebnisse statt Anziehsachen und Schuhen."

Jeden Abend überlegt sich Duyi, wo sie übernachten möchte. Wegen ihres neuen Jobs wird es in den nächsten Monaten unter der Woche immer irgendwo in Sydney sein. Abends knipst sie ihre Leselampe an, nimmt sich ein Buch aus einem ihrer kleinen Regale und liest unter dem warmen Schein einer Lichterkette. Manchmal lässt sie nachts auch die Tür vom Campervan offen, um das Meeresrauschen zu genießen. "Ich habe in den letzten Jahren viel über mich selbst gelernt. Vor allem, dass ich nicht viel brauche im Leben." (Katharina Kotrba, 12.5.2019)