Der Campus Berresgasse, geplant von PSLA Architekten, ist schon im Endausbau. Auf dem weiten Feld westlich und nördlich davon werden in den kommenden Jahren 3.000 Wohnungen entstehen.

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Bezirksvorsteher Ernst Nevrivy: "Ich habe nichts davon, wenn ich permanent die eigene Stadtregierung öffentlich angreife und ihr ausrichte, was sie zu tun hat."

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STANDARD: Die Donaustadt müsse der schönste Bezirk sein, weil so viele Menschen hier leben wollen – das sagen Sie bei jeder Gelegenheit. Man könnte glauben, Sie meinen das ernst ...

Nevrivy: Menschen ziehen nicht hierher, weil zufällig eine Wohnung frei ist, sondern weil sie bewusst auch das Leben in einem Umfeld haben wollen, wie es einem Spaß macht. Das ist bei uns zweifelsohne der Fall. Es gibt viele Grünflächen und Erholungsmöglichkeiten wie die Lobau. Trotzdem ist man mit U1 oder U2 in wenigen Minuten im Zentrum.

STANDARD: Attraktiv ist die Donaustadt aber auch für Autofahren, denn hier gibt es noch kein Parkpickerl.

Nevrivy: Wir sehen das Parkpickerl, wie es derzeit gehandhabt wird, nicht als das richtige Mittel. Es bewirkt, dass der ruhende Verkehr, der täglich einpendelt, nur von einer Stelle zur anderen verschoben wird. Und nach wenigen Monaten mit Parkpickerl würden außerdem die Garagen im Bezirk plötzlich leerstehen. Nächster Schritt: Die Bauträger raunzen, dass sie leere Garagen haben und keine neuen mehr bauen wollen.

STANDARD: Sie könnten dann ja Stellplätze zurückbauen und Grünflächen schaffen.

Nevrivy: Das ist der Ansatz der Grünen. Damit löse ich aber das Problem nicht. Die Einpendler gibt es trotzdem, die verschwinden ja nicht. Ich bin der Meinung, dass wir alle Einpendler aus Niederösterreich, dem Burgenland oder dem Ausland an der Stadtgrenze abfangen müssen.

STANDARD: Den Verkehr machen Sie sich aber auch selbst. In Ihrem Bezirk wird aktuell sehr viel gebaut, allerdings nicht nur entlang der U-Bahn, sondern auch in Gegenden, die sehr mangelhaft an das Öffi-Netz angebunden sind, wie etwa die Berresgasse oder die Dittelgasse. Was läuft da falsch?

Nevrivy: Ich könnte es mir einfach machen und sagen: Sowohl Berresgasse als auch Dittelgasse waren bereits entschiedene Sachen, bevor ich Vorsteher geworden bin. Aber das mache ich nicht. Um es klar zu sagen: Ich halte sowohl die Berresgasse als auch die Dittelgasse zum jetzigen Zeitpunkt für nicht ideal. Es gibt attraktivere Stellen im Bezirk, wie die Seestadt oder das Hausfeld, die beide unmittelbar neben der U-Bahn liegen. Das sind die Gebiete, die zuerst entwickelt gehörten. Warum die Berresgasse damals gemacht worden ist, weiß ich ehrlich gesagt wirklich nicht. Mit der öffentlichen Anbindung bin ich dort mehr als unzufrieden. Eine geplante Straßenbahnlinie 27 soll aber von der Berresgasse zur U2-Station Aspern Nord führen.

STANDARD: Sie treten recht vehement für den Bau neuer Straßen ein, wie den der Stadtstraße und des Lobau-Tunnels. Bräuchte es nicht auch mehr Vehemenz in Sachen öffentlicher Verkehr?

Nevrivy: Ich glaube, die Vehemenz ist nicht das Thema. Ja, natürlich wünsche ich mir, dass auch der öffentliche Verkehr zusätzlich ausgebaut wird. Dass die Berresgasse ohne Straßenbahn errichtet wird, ist für mich nicht denkbar. Dieser Druck ist sehr wohl von mir da, das versichere ich Ihnen. Aber ich habe nichts davon, wenn ich permanent die eigene Stadtregierung öffentlich angreife und ihr ausrichte, was sie zu tun hat. Und ich werde jetzt nicht raunzen, dass die Berresgasse noch keine Straßenbahn hat, sondern das werde ich dann machen, wenn absehbar ist, dass es dafür bald zu spät sein könnte.

STANDARD: Es gibt noch weitere Beispiele für größere Entwicklungen in schlecht erreichbaren Lagen, etwa in Breitenlee oder an der Ecke Breitenleer Straße / Senekowitschgasse ...

Nevrivy: Das hängt damit zusammen, dass viele Bereiche bereits bestehende Widmungen hatten. Und bei allen Wohnflächen, die bereits gewidmet sind, kann man davon ausgehen, dass mit einem Maximum der Bebaubarkeit gebaut wird. Die Stadt wächst, wir haben jedes Jahr rund 4.000 neue Bewohner in der Donaustadt. Wenn nicht ausreichend geförderter Wohnraum in der Stadt zur Verfügung gestellt wird, bedeutet das, dass die Mieten explodieren.

STANDARD: Die Donaustadt ist der am stärksten wachsende Bezirk Österreichs, in zehn Jahren sind rund 35.000 Einwohner dazugekommen. Wollen Sie dieses Aushängeschild für Bevölkerungsexplosion sein, oder ist das "passiert" – und was macht das mit dem Bezirk?

Nevrivy: Das ist uns natürlich passiert. Bürgerinitiativen, die gegen Bauprojekte sind, gibt es unzählige. Die Aufgabe der Politik ist es, die Bürgerinitiative derer zu sein, die eine Wohnung suchen. Und wir haben viele Wohnungssuchende in der Stadt. Das heißt: Wohnraum muss geschaffen werden.

STANDARD: Es gibt im 22. Bezirk auch viele Eigentums- oder Vorsorgeprojekte. Manchmal wird auch aus einem Eigentums- ein Mietobjekt. Gegen so etwas haben Sie keine Handhabe, oder?

Nevrivy: Nein. Wenn einer frei finanziert baut, kann er es verkaufen, wem er will. Die ganzen Vorsorgeprojekte sind natürlich politisch nicht erwünscht, keine Frage, aber verhindern kann man sie nicht.

STANDARD: Manche dieser Wohneinheiten stehen dann aber lange leer, wie etwa in der Erzherzog-Karl-Straße gerade zu beobachten ist.

Nevrivy: Ja, und die Bauträger sind oft auch noch stolz auf ihre Projekte. Die glauben tatsächlich, dass diese Vorsorgewohnungen etwas sehr Attraktives sind. Ich sehe das nicht so. Ich wäre ja eher dafür, alles gefördert zu machen, bin nicht unbedingt der Meinung, dass man eine eigene Wohnung besitzen muss. Aber das ist eine politische Frage. Fakt ist: Der geförderte Wohnbau ist dazu da, die Preise einigermaßen am Boden zu halten.

STANDARD: Sie bekommen im Bezirk bald auch "neue" Gemeindewohnungen, nämlich rund 300 in der Seestadt und in der Berresgasse. Hätten Sie gerne noch mehr?

Nevrivy: Es gibt Gespräche für ein paar weitere Projekte. Wiener Wohnen ist an mich herangetreten und hat Flächen avisiert. Bei neuen Entwicklungsgebieten sehe ich da kein Problem. In der Donaustadtstraße werden 300 Wohnungen gebaut, davon werden 100 neue Gemeindewohnungen sein. Das sind Projekte, über die ich mich sehr freue, denn Gemeindewohnungen sind noch besser als der geförderte Wohnbau, da erspart man sich die Eigenmittel. Es kann aber nicht sein, dass Nachverdichtungsprojekte zum Nachteil der bestehenden Bevölkerung gebaut werden. Da geht’s um die Parkplatzsituation etc. Da werden wir uns jedes einzelne Projekt genau anschauen. Und es ist ja auch eine Frage der finanziellen Mittel. Michael Ludwig hat als Wohnbaustadtrat gut darauf geschaut, dass viele geförderte Wohnungen geschaffen werden. Kathrin Gaal führt das tadellos fort, 4.000 Gemeindewohnungen sind avisiert. Aber: Wir brauchen dazu auch die nötige soziale Infrastruktur, Schulen und Kindergärten.

STANDARD: Da gibt's in der Seestadt aktuell ein Problem.

Nevrivy: Ja. Weil wir so beliebt sind, kommen die jungen Familien zu uns, die aber mehr Kinder haben als im Schnitt. In die Seestadt sind viel mehr junge Familien mit kleinen Kindern gezogen, als wir gedacht hatten. Und mehr als 500 Kinder wurden in der Seestadt schon geboren. Schulplätze haben wir zwar für die Donaustädter Kinder mehr als ausreichend, bei den Kindergärten haben wir aber in der Seestadt tatsächlich Probleme, da wurde zu knapp kalkuliert. Wir können dort nur langsam nachziehen, denn das muss im Zuge der Widmung und der Bautätigkeit passieren, aber wir reagieren auf diese Erfahrungen auch schon in anderen Entwicklungsgebieten. Bei der Berresgasse rechnen wir etwa nicht mehr mit dem wienweiten Faktor, sondern mit den Erfahrungswerten aus der Seestadt.

STANDARD: Heißt das, der gerade fertig werdende Campus Berresgasse ist schon zu klein?

Nevrivy: Nein, der wird ausreichen. Auch in der Seestadt wird bald am nächsten Campus gebaut. Aber man ging beispielsweise im Zuge der Planungen für den Campus Berresgasse davon aus, dass man irgendwann ältere Schulen im Bezirk nicht mehr brauchen wird. Das dürfte nun nicht der Fall sein.

STANDARD: Der Weiterbau der Seestadt werde nicht möglich sein, wenn die Stadtstraße nicht kommt, sagten Sie 2016 in einem STANDARD-Interview. Jetzt ist von der Straße weit und breit noch nichts zu sehen – und in Aspern wird gebaut wie wild. Wann kommt es zum Baustopp?

Nevrivy: Es bleibt dabei: Ohne Stadtstraße könnte der letzte Teil der Seestadt nicht gebaut werden. Da würden dann zu viele Menschen wohnen – mehr, als über das derzeitige Straßennetz fahren könnten. Wir haben jetzt 7.000 Menschen dort, irgendwann ist der Zeitpunkt erreicht, wo nicht mehr weitergebaut werden darf. Auch jede andere Entwicklung in Aspern und Essling könnte dann übrigens nicht mehr stattfinden. Es droht nun aber kein Baustopp in der Seestadt, weil mit dem letzten Teil noch nicht begonnen wurde.

STANDARD: Wann wird die Stadtstraße fertig sein?

Nevrivy: Die Planer in der Stadt sagen, es besteht eine gute Möglichkeit, dass das Verwaltungsgericht dieses Jahr entscheidet. Wäre dem der Fall, könnte im nächsten Jahr der Baubeginn sein, und dann könnte sie innerhalb von drei Jahren fertig sein. (Interview: Martin Putschögl, David Krutzler, 12.5.2019)