Bevor man zum Eurovision Song Contest nach Tel Aviv reist, sollte man einen Zwischenstopp im Jüdischen Museum Hohenems einplanen. Dort erzählt die Ausstellung "All About Tel Aviv-Jaffa. Die Erfindung einer Stadt" noch bis 9. Oktober Mythen über die Gründung der Stadt und wie sie sich immer neu erfand. Dabei blickt sie aber nicht auf eine gewollte Darstellung, sondern wagt den Blick hinter die Fassaden des City-Branding. Dieses lautet seit einigen Jahren zumeist: die tolerante Partystadt, die Start-up-Metropole, die weiße Bauhaus-Stadt, die weltoffene Blase und Hauptstadt der Lesben und Schwulen im Nahen Osten. Die Gastgeberstadt des diesjährigen Eurovision Song Contest verstand es immer wieder, sich neu zu positionieren und ihr Image weltweit zu verkaufen.

Hannes Sulzenbacher ist Kurator der Ausstellung, in der auch aktuelle Stadtansichten des in Tel Aviv geborenen und in Frankfurt am Main lebenden Fotografen Peter Loewy gezeigt werden.

STANDARD: Auf dem Plakat zur Ausstellung schreibt ihr im Untertitel "Erfindung einer Stadt" statt "Gründung einer Stadt". Was unterscheidet also diese Erfindung von einer Gründung? Wann und von wem wurde Tel Aviv denn erfunden?

Sulzenbacher: Es geht in der Ausstellung "All About Tel Aviv-Jaffa" nur kurz um die tatsächliche Gründung Tel Avivs, vielmehr zeigt sie, wie die Stadt von Anfang an immer neu erfunden wurde, sei es als "erste hebräische Stadt", als erstes urbanes zionistisches Projekt oder in den letzten Jahrzehnten als Party- und Lifestylemetropole, die es geschafft hat, als "Stadt ohne Nahostkonflikt" wahrgenommen zu werden. Die Akteure hinter den steten Neuerfindungen waren zunächst die Zionisten der ersten Stunde, die ihr Projekt bewarben. In den letzten Jahrzehnten waren es City-Branding-Agenturen im Auftrag der Stadtpolitik, die diese Aufgabe übernommen haben. Interessant in diesem Zusammenhang ist aber die Geschichtslosigkeit, in der sich diese Stadt darstellt, als ob es außer einem Gründungsfoto keine Stadtgeschichte gäbe. Und selbst das ist nicht das Gründungsfoto, sondern ist wohl schon ein Jahr vorher aufgenommen worden.

Orangenkisten aus Jaffa. Das Sinnbild des alten Jaffa waren die Orangen, die von aus hier in alle Welt verschifft wurden.
Foto: Zoltan Kluger

STANDARD: Der Beginn Tel Avivs war der als kleine Vorstadt der großen arabischen Stadt Jaffa. Heute wird das andersrum wahrgenommen. Kann Tel Aviv heute ohne Jaffa und Jaffa ohne Tel Aviv gedacht werden, oder ist das eine besondere Symbiose?

Sulzenbacher: Am Anfang war die Stadt Jaffa, die seit über 5.000 Jahren besiedelt war und bereits in der Bibel vorkommt. In der heruntergekommenen, überfüllten Hafenstadt lebten um die Wende zum 20. Jahrhundert muslimische und christliche Araber und Juden. Wegen der Überfüllung der Stadt bildeten sich Siedlungsgenossenschaften, die außerhalb der Stadtgrenzen kleine Landstriche kauften, um sie zu besiedeln. Eine von ihnen hieß Achusat Bajit, und sie erwarb einen Orangenhain im Norden der Stadt. Über die gewaltige jüdische Zuwanderung nach Palästina in den nächsten Jahrzehnten wuchs die Siedlung, die sich in den 1920er-Jahren nach dem Roman "Altneuland" von Theodor Herzl "Tel Aviv" nannte, Dörfer der Umgebung schlossen sich der jungen Vorstadt an. Bald kam es zu Spannungen gegenüber den Neueinwandererern.

Die politische Macht über Palästina lag bis 1948 jedoch in den Händen der Briten, und gegen sie richtete sich ein großer Teil der Gewalt, sowohl von jüdischer als auch von arabischer Seite. Nach einem Aufstand der Araber im Jahr 1936 zerstörten die Briten den Großteil der Altstadt von Jaffa. Der Uno-Teilungsplan von 1947 sah Jaffa als eine arabische Exklave im neuen jüdischen Staat vor, der Plan wurde jedoch von den arabischen Nachbarstaaten nicht akzeptiert. Israel gewann den folgenden Krieg, und zionistische Untergrundmilizen stürmten Jaffa und vertrieben fast alle Bewohnerinnen und Bewohner. 1950 erfolgte die administrative Übernahme und die Neubenennung: Aus den Möglichkeiten "Jaffa-Tel Aviv" und "Tel Aviv-Jaffa" wurde die letzte schließlich ausgewählt, obwohl die Variante "Jaffa-Tel Aviv" bereits beschlossen worden war.

Die Gründung von Tel Aviv 1908.
Foto: Abraham Soskin

STANDARD: Wie können wir uns die Transformation von Jaffa zu Tel Aviv-Jaffa vorstellen?

Sulzenbacher: Es war zunächst eine paramilitärische Übernahme durch die zionistischen Untergrundeinheiten Haganah und Irgun, Letztere unter dem Kommandeur Menachem Begin. Ungefähr 70.000 arabische Muslime und Christen haben vor dem Krieg in Jaffa gelebt. Nach 1948 waren nur 4.000 zurückgeblieben, sie erhielten das israelische Bürgerrecht, lebten aber bis 1966 unter Militärherrschaft: Sie wurden von den Israelis im Viertel Ajami eingezäunt, das deshalb auch das "Ghetto" genannt wurde. Bis heute leben sie in den unterentwickelten, schlechteren Vierteln im Süden der Stadt. Jaffa selbst wurde stadtplanerisch lange vernachlässigt und verfiel. Heute ist es einer der Brennpunkte der Gentrifizierung, die eines der größten Probleme Tel Avivs darstellt. Jetzt zieht eine reiche Oberschicht in Jaffa ein, und die palästinensischen Händler sind quasi Dekoration geworden.

STANDARD: Wie kam es dazu, dass man in der sogenannten "Weißen Stadt" Tel Aviv so unfassbar viel Bauhaus-Architektur sehen kann?

Sulzenbacher: Das ist ein Irrglaube und auch Teil von professionellem City-Branding. Tatsächlich ist es der in vielen städtischen Projekten der frühen Moderne vorherrschende "International Style", der Tel Aviv prägt. Die Geschichte von den aus Deutschland vertriebenen jüdischen Bauhaus-Architekten ist nicht viel mehr als eine Marketing-Erfindung, denn nur ganz wenige dieser Häuser sind tatsächlich von Architekten geplant worden, die am Bauhaus studiert haben. Die Architekten von Tel Aviv haben bei den unterschiedlichsten europäischen Architekten in Paris, in Berlin oder in Warschau gelernt. Mit den sozialen Utopien des Bauhauses haben die braven Mehrfamilienhäuser der sogenannten "Weißen Stadt" wenig zu tun. Detail am Rande: Die 4.000 Gebäude, die heute als "Weiße Stadt" bezeichnet werden, sind seit 2003 Unesco-Welterbe. Dies ist zwar elementarer Bestandteil des Stadtmarketings, mittlerweile aber von den Geschehnissen überholt: Israel ist 2019 aus der Unesco ausgetreten.

Straßenecke im alten Stadtteil Manshieh 1929. Heute befindet sich hier der Charles-Clore-Park, in diesen Wochen Schauplatz des Eurovision Village.
Foto: Zvi Oron

STANDARD: Tel Aviv gilt als liberale Blase, als so ganz anders als der Rest Israels, ja eigentlich des gesamten Nahen Ostens. Partys, eine boomende LGBT-Community, eine Stadt der Avantgarde und der Kultur und so weiter. Wurde das bewusst so "erfunden", oder ergab sich das eher zufällig?

Sulzenbacher: Es wurde bewusst so erfunden und hätte vermutlich doch nicht funktioniert, wenn nicht was dran gewesen wäre. Tatsächlich fanden selbst die Bewohner von Tel Aviv in den 1980er-Jahren die Stadt fad und hässlich. Um diesen Befund zu ändern, wurden zahlreiche Maßnahmen für die Stadt, vor allem aber auch für ihr City-Branding, gesetzt. Das erfolgreichste Branding, könnte man sagen, war jenes, das von manchen sogar als Kritik verstanden wird: Tel Aviv sei eine Blase. Damit konnte ein völlig neues Bild transportiert werden: Man hat nichts mit den Niederungen rechter israelischer Politik zu tun, man lebt in bester Koexistenz mit der arabischen Minderheit, man ist säkular und entspannt, eben völlig anders als der Rest von Israel. Es ist halt doch schwer zu glauben, dass die größte und wirtschaftsmächtigste Stadt des Landes nicht in die Systeme der politischen Entscheidungsfindung eingebunden ist. Jede staatliche Diskriminierung gilt ja in Tel Aviv nicht weniger als sonstwo.

STANDARD: Heutzutage gilt Tel Aviv auch als Wirtschaftsmotor und Start-up-Stadt. Ist das eher eine neue Entwicklung, oder war das immer schon so?

Sulzenbacher: Die Region Dan-Gush, also der Ballungsraum Tel Aviv-Jaffa, hat fast vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, also fast die Hälfte Israels, natürlich ist hier das wirtschaftliche Zentrum. Dies ist Teil einer langen Entwicklung, so hatte Dan-Gush in den 1990er-Jahren lediglich zwei Millionen Einwohner. Doch all die Bemühungen um ein gutes, weltoffenes Image dienten letztlich der Ankurbelung der städtischen Wirtschaft. Als Musterschülerin in City-Branding sollten die verwendeten Slogans der "Nonstop City", "Gay City" oder "Start-up City" vor allem ein wirtschaftsfreundliches Klima für Tel Aviv schaffen.

Die Hayarkon-Straße in Tel Aviv.
Foto: Peter Loewy

STANDARD: In eurer Ausstellung sind zeitgenössische Fotos des in Tel Aviv lebenden Fotografen Peter Loewy zu sehen. Was ist das Besondere an seinen Fotos?

Sulzenbacher: Peter Loewy hat die Stadt als Kind mit seinen Eltern verlassen und sie seither nicht mehr aus den Augen verloren. Seine Fotos heute sind eine subjektive Bestandsaufnahme der Stadt, ihrer blendenden "weißen" Teile, aber auch ihrer dunklen. Denn am Rande des Mythos des multikulturellen Tel Aviv leben nicht nur die aus der Stadt vertriebenen Palästinenser, auch die eingewanderten Juden aus dem arabischen Raum und aus dem Iran gelten als "Schwarze", so wie die Religiösen, deren Präsenz auch in Tel Aviv zunimmt. Außerhalb der Gesellschaft leben schließlich afrikanische Armuts- und Arbeitsmigranten, deren Situation ebenso bedrückend ist wie ihre Perspektiven. Das Stadtpanorama, das Peter Loewy mit seinen Fotos entworfen hat, erstreckt sich nicht nur geografisch von ganz oben nach ganz unten, sondern auch sozial.

STANDARD: Nun findet der Eurovision Song Contest erstmals in Tel Aviv statt. Davor fand er 1979 und 1999 in Jerusalem statt. Ob der Wettbewerb 2019 in Jerusalem oder in Tel Aviv stattfinden soll, war lange Zankapfel zwischen der Regierung, den beiden Städten, dem Sender KAN und der EBU. Stehen Jerusalem und Tel Aviv in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, und stehen die beiden Städte politisch für ganz etwas anderes?

Sulzenbacher: Jerusalem ist halt das Zentrum dreier Weltreligionen, die sich dort oft ignorant, aber auch feindselig begegnen, vom Image her ist natürlich Tel Aviv die Stadt zum Feiern und Jerusalem die Stadt zum Beten. Es wird dennoch oft vergessen, dass auch in Jerusalem viele Leute wohnen, die säkular leben und die sich über ein bisschen Partystimmung in der Stadt wohl gefreut hätten.

Strandpromenade vor dem Etzel-Museum, Tel Aviv.
Foto: Peter Loewy

STANDARD: Das Eurovision Village wurde im Charles-Clore-Park aufgebaut. Dieser befindet sich auf dem zerstörten Viertel Manshieh. Was war das Besondere an diesem völlig vergessenen Viertel?

Sulzenbacher: Manshieh war ebenso eine Vorstadt von Jaffa, mit gemischter, vorwiegend aber arabischer Bevölkerung. Im Juli 1948, wenige Wochen nach dem Ende des Bürgerkriegs und der Vertreibung der Bewohner von Manshieh, begann die Stadtverwaltung von Tel Aviv mit dem Abbruch großer Teile des Stadtteils. Die Schleifung war Teil eines geplanten großstädtischen Wiederaufbaus für das südliche Tel Aviv. Nur: Sie war offensichtlich rechtswidrig. Beschönigt wurde dieser Gesetzesbruch durch die Behauptung, sie sei zur Abwehr feindlicher Angriffe nötig.

Man hat einfach ein ganzes Stadtviertel flachgemacht, den Schutt ins Meer geschoben und das Ganze begrünt. In der Mitte des Parks thront auf den Überresten eines palästinensischen Hauses das Etzel-Museum, das die militärische Übernahme Jaffas 1948 als Befreiung darstellt: ein Triumph des zionistischen Geschichtsnarrativs über jede kritische Geschichtsschreibung. Am 13. Mai findet dazu im Jüdischen Museum Hohenems ein sehr interessanter Vortrag des israelischen Architekten und Architekturhistorikers Or Aleksandrowicz statt, in dem dargelegt werden wird, warum Manshieh bis heute eine unheilbare Wunde in der Stadt ist. Infos hier. (Marco Schreuder, 10.5.2019)