Die vierte Woche der Tour ist angebrochen, und ich laufe inzwischen nur noch auf Kaffee, Bier und der Vorfreude auf all die netten Kommentare im STANDARD-Forum, so here we go again: Wir sind relativ spät aus Seoul aufgebrochen, um uns zu unserem vorerst letzten großen Reiseziel zu begeben: Taiwan. Da Jimmys Großvater in Taiwan lebt, wohnen wir zunächst einige Tage in seinem Haus in der (für asiatische Verhältnisse) kleinen Stadt Tainan am südlichen Zipfel der Insel, bevor wir in ein paar Tagen dann nach Taipeh fahren.

Bereits vor zwei Jahren waren wir schon einmal einige Tage zusammen auf Auftrittstour in Taiwan unterwegs, und schon damals hatte ich den seltsamen Eindruck, dass sich trotz aller Entfernung und Eigenheiten des Landes nicht wirklich richtige Entfremdungsgefühle einstellen wollten.

Ich glaube, das hängt schlicht damit zusammen, dass sich Jimmy hier so wahnsinnig heimelig fühlt und diese Stimmung irgendwie auf mich überzugehen scheint. Er kennt sich einfach aus. Er spricht Chinesisch mit taiwanesischem Einschlag, er weiß, wo man wie was bestellt und findet sich völlig ohne Probleme und Internet in den kleinen verschlungenen Gassen zurecht. Ich merke, wie sich in mir einfach ein Schalter umlegt und ich mich augenblicklich im Urlaubsmodus wähne.

Seltsames Essen

Nach einiger Zeit machen sich dann allerdings doch die ersten Exotismen bemerkbar. Etwa, dass man zum abendlichen Bier einfach Innereien dazu isst. Und obwohl ich dank der Waldviertler Küche meiner Familie Blut und Organen nicht ganz abgeneigt bin (OH GOTT, DA IST ES WIEDER, DAS WALDVIERTEL!), entwickle ich dann doch gewisse Hemmungen, wenn es um aufgeschnittene Streifen eingelegten Darms geht, der neben den Tofustücken und Frühlingszwiebeln wie selbstverständlich auf dem Teller liegt. Genauso wenig kann ich mich trotz aller Versuche (in Zahlen: eins) nicht mit den hundertjährigen Eiern anfreunden, den fermentierten Hühnereiern (Enteneier, behauptet Jimmy), die einige Wochen eingegraben wurden und jetzt vom Aussehen und Geruch nach zu urteilen zu ein Prozent aus grün-schwarzer Lebensmittelfarbe und zu 99 Prozent aus Ammoniak bestehen.

Neben den kleinen, radikalen Auswüchsen komme ich mit der Taiwanesischen Küche einigermaßen gut zurecht. Speziell der geruchlich recht angsteinflößende Stinky-Tofu, den es an jeder Straßenecke gibt, entpuppt sich als eine Art hervorragende asiatische, vegetarische Variante eines in Knoblauch und Koriander getränkten Würstelstandsnacks, serviert, auf taiwanesiche Art, auf einem Plastikteller in einem Plastiksackerl.

Leerer Stinky-Tofu-Teller.
Foto: Jimmy Brainless

Taiwanesische Hausregeln, die ausführliche Version

Auch das Haus von Jimmys Großvater hat seinen ganz eigenen Tainan-Charme. Nach dem abendlichen Eintreffen bekommen wir gleich eine kurze Tour durch die Räumlichkeiten und Jimmy übersetzt mir die kleinen Ticks und Eigenheiten, die unser Zuhause hat. Beispielsweise darf man keine Essensreste herumliegen lassen (auch nicht im Mistkübel), da sonst sofort die Kakerlaken vom Geruch angelockt, durch die Leitungen nach oben kriechen. Und apropos Leitungen: Die Dusche hat leider so gut wie überhaupt keinen Wasserdruck, allerdings gibt es dafür extra einen elektrischen Wasserdruckverstärker, den man mittels Stromkabel anstecken kann (allerdings etwas vorsichtig beim Einstecken sein, da blitzt es manchmal ordentlich raus). Man darf aber auf keinen Fall vergessen, das Kabel wieder auszustecken, sonst pumpt die Anlage einfach immer weiter Wasser durch die Rohre und wenn der Hahn im Erdgeschoss nicht offen ist, geht das Wasser einfach hoch in den zweiten Stock, sammelt sich dort, tritt aus und verursacht Schimmel, Fäule und Wasserschäden im gesamten Haus.

Das Wasser in der Dusche im Erdgeschoss fließt zudem leider nicht richtig ab und muss mit einem Besen in den Abfluss gefegt werden. Überhaupt ist zu empfehlen, nur im unteren Stockwerk zu duschen, denn das Bad im oberen Stockwerk verwendet ausschließlich gesammeltes Regenwasser und das wird nicht gescheit gefiltert und da hat Jimmys Vater auf Besuch schon einmal einen fürchterlichen allergischen Schock erlitten. Scheißen sollte man hingegen nur im oberen Stockwerk, da der Wasserdruck vom Regenwasser höher ist und eher durch die engen, leicht verstopfbaren Röhren kommt. Klopapier darf man allerdings weder oben noch unten im Klo runterspülen. Das wird in einem eigenen Müllsack gesammelt und immer nur am Sonntag abgeholt. Der Müll muss generell ganz streng getrennt werden, sonst nimmt ihn die Müllabfuhr nicht mit. Die Müllabfuhr hält wiederum circa hundert Meter entfernt an einem Sammelplatz, da muss man den Müll dann alle zwei Tage hinbringen, je nachdem was gerade abgeholt wird.

Das Leitungswasser im Haus ist natürlich kein Trinkwasser. Dafür gibt es diesen riesigen Plastikcontainer in der Küche. Das Wasser aus dem Container muss allerdings auch vor dem Trinken noch einmal abgekocht werden – wobei wir uns nicht sicher sind, ob das wirklich notwendig ist, oder ob das nur der neurotischen Hypochondrie entspringt, die Jimmys Opa mit meinem Opa teilt. Der Wasserkocher ist aber leider ein bisschen kaputt. Er lässt sich nur mit Mühe einschalten und einmal eingeschaltet hört er nicht mehr auf zu kochen, dann muss man ihn einfach ausstecken – beim Ausstecken aber aufpassen, da blitzt es manchmal ordentlich raus –, und die manuelle Pumpe funktioniert nicht mehr, deshalb muss man das kochende Wasser mit einer Schöpfkelle herauslöffeln. Die Schöpfkelle ist aber leider auch ein bisschen kaputt, der Griff fällt fast ab, weil die Schrauben einfach immer wieder locker werden. Daneben liegt dafür ein eigener Schraubenzieher. Der Schraubenzieher ist allerdings auch schon etwas locker. Die Türschlösser auch. Die sind alle schon ziemlich verrostet und wackeln, aber dafür gibt es sehr viele davon. Die Gelsengitter unbedingt immer geschlossen halten. Die sind zwar auch schon etwas löchrig an den Ecken, aber deshalb ist es umso wichtiger, dass sie immer geschlossen bleiben.

Das Auto im Hof können wir übrigens auch benutzen, allerdings funktioniert es nicht richtig. Es muss täglich gestartet werden, weil es sonst nicht mehr gestartet werden kann. Papiere sind auch keine drin, die hat Jimmys Opa in der Werkstatt vergessen, da er das Auto gerade reparieren hat lassen, weil es nämlich kaputt war, aber die Polizei kontrolliert sowas eh nie. Es riecht ziemlich stark nach Benzin, wenn man das Auto startet. Und man sollte mit der Lüftung aufpassen, da ist irgendetwas undicht und die Abgase ziehen manchmal direkt in den Fahrzeugraum und man könnte daran ersticken, also bitte nur mit offenem Fenster fahren – eines der Fenster lässt sich ohnehin nicht mehr richtig schließen, also kann man da eigentlich nichts falsch machen.

Das Licht draußen auch bitte immer abdrehen, sonst kommt eine Armee an Gelsen, Schnacken, Spinnen und weiß der Geier was noch. Im Haus gilt deshalb auch: Alle Türen sofort zu machen, damit nichts reinkommt. Außer die Badezimmertüren, die immer geöffnet lassen, weil sonst alles schimmelt. Apropos Licht: Innen gibt es nur Neonröhren und die brauchen manchmal einige Minuten bis sie auf den Lichtschalterimpuls reagieren. Also erst wenn man nach zehn Minuten immer noch im Dunkeln steht, weiß man, dass etwas nicht stimmt.

Vom Geckoschrei zum Festival

Ich nicke zu allem und beschließe einfach nichts mehr in diesem Haus anzufassen. Als die Tour durch das Haus vorbei ist, ist es bereits Abend und wir drehen alle Lichter ab, schließen alle Türen, öffnen alle Türen, stecken alles aus, verschließen die unzähligen kleinen Schlösser, stellen den Müll raus oder nicht und ich lege mich mit summendem Schädel ins Bett und bete die einzelnen Regeln noch einmal der Reihe nach im Kopf herunter. Dann schließe ich meine Augen und dämmere gerade friedlich dahin, als ich plötzlich ein helles, hohes, durchdringendes Schreien aus einer Ecke meines Zimmers höre.

"Das ist wahrscheinlich nur der Gecko!", schreit Jimmys Opa aus dem linken Nebenzimmer und Jimmy schreit es noch einmal auf Deutsch übersetzt aus dem rechten Nebenzimmer und ich falle in einen unruhigen Schlaf mit äußerst wirren Träumen.

Am nächsten Morgen reißt mich das erneute liebliche Geschrei der Geckos aus dem Schlaf. Heute fahren wir mit einem Shuttlebus zum eine halbe Stunde entfernten Hutoupi-Reservoir, auf dessen Boden das kleine MayJam-Musikfestival stattfindet, das von einer toughen Taiwanesin und einem hippiesken Exilberliner einmal im Jahr organisiert wird. Das Festivalgelände besteht aus einem einzigen großen Platz mit einem Halbkreis kleiner Essens- und Getränkestände, die sich links und rechts der großen Bühne auffächern. In kleinen Zelten sitzen Menschen mit Bier und Essen auf den Klapptischen vor sich. Kleine Kinder laufen herum, halten Schilder hoch und weisen darauf hin, dass gerade Happy Hour ist, drei Bier zum Preis von zweien, ich schaue nochmal hin, ja es sind acht- bis zehnjährige Kinder die gerade Werbung für die Happy Hour machen und auch am Getränkestand steht ein etwa zehnjähriges Mädchen, das den Leuten die drei Bier im Austausch für 120 Taiwan-Dollar in die Hand drückt und ich muss daran denken, dass ein Veranstalter aus Taipeh sich gerade per Mail über eine Stelle in einem Text von mir beschwert hat, wo Bier vorkommt, weil das ja ein schlechtes Vorbild für die zuschauenden Kinder ist. Dann krame ich 120 Taiwan-Dollar aus meiner Hosentasche und nehme die drei Bier in Empfang, die unseren Festivalabend offiziell einläuten.

Fast das Frequency

Zu meiner Enttäuschung hat sich das Festivalbier geändert. Vor zwei Jahren wurde hier noch "Bar" ausgeschenkt, das den absolut grandiosen Slogan "Live for fun, work for fun, drink for fun, don’t forget fun, every time you have a Bar the world will be full of fun" hatte, was ehrlich gesagt einfach der beste Werbeslogan ist, den sich jemals jemand für Bier ausgedacht hat. Dieses Jahr gibt es hingegen nur "Taiwan Bier", welches keinerlei nennenswerten Slogan hat, dafür jedoch gar nicht so schlecht schmeckt.

Unser eigener Auftritt ist für 22:30 Uhr angesetzt, wonach wir sofort von der Bühne und ab in den letzten Shuttlebus zurück in die Stadt springen müssen. Bis dahin haben wir aber noch eine Menge Zeit und schauen uns der Reihe nach die auftretenden Acts an.

Xinhua-JenSou-Temple-Dance beim MayJam.
Foto: Jimmy Brainless

Zuerst tritt eine Gruppe Taiwanesischer Performancekünstler auf, die in traditionellen Gewändern der taiwanesischen Ureinwohner eine selbstbetitelte "Temple Show" aufführen – eine Art zeremonieller, sehr energetischer Fächertanz in weiten roten Kleidern, Kopfbedeckungen mit wunderschönem Federschmuck und Schildern mit gelben Tierfratzen darauf, die an einem um die Arme geschlungenen Stock baumeln wie Eimer zum Wassertragen. Ihre Gesichter zu weißen Masken geschminkt, mit filigranen bunten Mustern darauf, die im Laufe der Performance alle möglichen Grimassen und Emotionen zeigen, die man sich nur vorstellen kann.

Zu Paukenschlägen und einer Art Geigen-/Flöten- oder ziehharmonikaartigem Sound umkreisen sich die Tänzer mal schnell, mal langsam, während im Hintergrund eine spektakuläre Lichtshow ihre bunten Strahlen durch den Dunst der Nebelmaschine wirft.

Ich beobachte das Ganze etwas aus der Ferne, weil ich mir an einem Stand gerade eine original taiwanesische Quesadilla hole, von dem ich sagen kann, dass es wirklich ganz ok schmeckt, auch wenn es natürlich nicht die authentische mexikanische Küche ist, die ich eigentlich am Rande eines ostasiatischen Naturschutzgebietes erwartet hätte, aber naja, man kann nicht alles haben.

Bühnenbeobachtungen

Als ich einige Minuten später wieder von meinem Essen aufschaue, haben die Tänzer bereits mehrere Pyramiden aus ihren Körpern erbaut, und tragen sie nun Stück für Stück wieder ab, während die Musik etwas leiser wird und schließlich mit dem letzten auf den Boden zurückkehrenden Tänzer ganz verklingt. Die Tänzer verlassen die Bühne und in der Umbaupause laufen noch einmal die mit Schildern behängten Kinder hinauf, um darauf hinzuweisen, dass die Happy Hour in sieben Minuten endet. Ich laufe schnell, um mich noch mit genügend Bier für den restlichen Abend einzudecken und überblicke, während ich darauf warte, dass das zehnjährige Mädchen mir literweise alkoholische Getränke holt, noch einmal die ganze Szenerie.

Es sind insgesamt sehr viele Familien mit kleinen Kindern da. Auch recht viele eher mittelgroße bis kleine Hunde. In einiger Entfernung sehe ich ein kleines Mädchen, dass eine riesige, erdnussförmige, trocken und hohlwirkende Frucht, die von einem der umstehenden Bäume gefallen sein muss, mit einem Stück Draht umwickelt als Spielzeug hinter sich herzieht. Auf der Bühne beginnt indes die durchschnittlichste Reggea-Cover-Band zu spielen, die ich jemals gehört habe und ich beobachte fasziniert, wie sich die taiwanesische Ureinwohnertänzergruppe nach ihrem Auftritt immer noch in farbenfrohen, federbehängten Kostümen neben der Bühne ein paar Quesedillas, Softeis und Feierabendbier reinziehen. Kurz denke ich darüber nach, ob meine Faszination über diesen Anblick bereits eine milde Form von internalisiertem Rassismus ist, aber dann drückt mir das kleine Mädchen hinter der Bar meine fünfzehn Biere in die Hand und ich fühle mich wieder absolut moralisch integer.

Der Sänger der Reggea-Band ruft immer wieder "Freedom!" ins Publikum, erhält aber keine Antwort als er den fünf Zuschauern sein Mikrophon entgegenstreckt. Am Himmel formieren sich währenddessen eine gruselig hohe Anzahl an lautlos blinkenden Drohnen. Ich bin nahe dran mich in die paranoide Vorstellung zu werfen, sie sind uns schon seit China gefolgt, aber ich bin schon etwas zu betrunken, um mir wirklich Sorgen zu machen. Die Reggeaband wechselt mit einer schon einigermaßen interessanteren Post-Rock-Band mit einem Frontman, der es tatsächlich schafft, auf eine Art und Weise Ukulele zu spielen, ohne, dass es mich zu Tode nervt. Danach kommt ein Trommelkreis mit Sängerinnen, die zuvor schon als Tänzerinnen der Ureinwohnertruppe aufgetreten sind. Ich frage Jimmy, was sie da singen und stapfe wieder einmal direkt in eines der unzähligen Fettnäpfchen dieser Reise. Taiwans Sprachenkultur ist wahnsinnig divers. Man muss differenzieren zwischen Hochmandarin, Mandarin mit taiwanesischem Akzent, taiwanesischem Dialekt (der immer noch eine entfernte Form des Mandarins darstellt, aber für normale Chinesisch-Sprecher schon weitgehend unverständlich ist) und den zahlreichen indigenen Sprachen, von denen eine momentan auf der Bühne von den Sängerinnen verwendet wird. Beim Hinhören merke ich auch, dass das im Grunde überhaupt nicht wie Chinesisch klingt. Gleichzeitig fehlt mir aber auch jeglicher Vergleichspunkt. Am ehesten, denke ich, kommt die Sprache vom Klangbild meiner laienhaften Vorstellung von amerikanischen, indigenen Sprachen nahe, aber da bin ich mit meinem Latein auch schon am Ende.

Verfolger aus China?

Als nächstes tritt eine Gruppe auf, die nur aus drei Typen mit kastagnettenartigen Rhythmusinstrumenten besteht. Ich glaube, es handelt sich im Grunde einfach nur um Holzkugeln an einer Schnur, aber die Geschwindigkeit und Präzision, mit der die Männer diese aufeinanderprallen lassen, hat schon etwas sehr Beeindruckendes und Faszinierendes, obwohl sie dennoch ein bisschen wie Leute wirken, die hauptberuflich Penspinning betreiben. Als sie schließlich fertig sind, tritt plötzlich die Festivalorganisatorin auf und verkündet irgendetwas, woraufhin ein Raunen durch das Publikum geht und alle ihre Köpfe nach oben recken. Wir haben keine Ahnung, was passiert.

Plötzlich dringt dramatische Filmmusik aus den Bühnenlautsprechern und der inzwischen fast schwarz gewordene Abendhimmel erstrahlt auf einmal in den verschiedensten Farben, als langsam die Drohnen über dem Bühnenzelt aufsteigen und eine einstudierte Lichtshow präsentieren. Und obwohl meine Paranoia bezüglich der Drohnen noch nicht ganz verschwunden ist, stehe ich einige Minuten mit offenem Mund da und starre einfach nur auf die sich drehenden, wandelnden Lichter, die den Himmel über uns fluten. Das Ganze wirkt gleichzeitig wahnsinnig beeindruckend und futuristisch und zugleich auch irgendwie etwas dilettantisch und nicht ganz perfekt einstudiert, was es irgendwie nur noch futuristischer wirken lässt. Die Leute sind gefesselt und ich bin wirklich froh, dass noch zwei Bands zwischen unserem Auftritt und der Drohnenshow liegen, denn ich glaube nicht, dass wir das gerade mit deutschsprachigem Songwriting und englischen Slam-Texten toppen können.

Treffen wir uns in Wien – oder Osaka

Da wir uns überhaupt nicht über das Festivalprogramm informiert haben, bin ich gleichermaßen verwirrt wie begeistert, als als nächster Act eine japanische Punkband namens Anthell auftritt, die schon im Soundcheck dermaßen harte Rückkopplungen und Übersteuerungen produziert, dass mein dreizehnjähriges Ich einfach nur noch in Vorfreude ausflippt. Die Band spielt daraufhin eine seltsame Mischung aus extrem hartem, wütenden Punk und superpositivem Collegerock, schreit das Publikum an und wirkt dabei immer noch übertrieben höflich und behält dieses Image auch bei, als sie anschließend Selfies mit uns machen und mir eine ihrer Demo-CDs gratis in die Hand drücken. Ich verspreche, einmal ein Konzert mit ihnen und meiner eigenen Punkband "Heldenplatz" zu organisieren, entweder in Wien oder in Osaka, und wir alle empfinden eine Vorfreude, die man bei Projekten empfindet, von denen man insgeheim weiß dass sie ohnehin niemals umgesetzt werden und man sich also auch die Mühe dafür ersparen kann – aber wer weiß, schau ma mal.

Elias mit der Band Anthell.
Foto: Jimmy Brainless

Nach der Punkband tritt noch eine Rockband auf, deren Musik absolut nichts in mir auslöst und die ich sofort wieder vergesse und dann stehen Jimmy und ich auch schon todesnervös neben der Bühne und warten hyperventilierend auf unseren Auftritt, als plötzlich der Berliner Organisator zu uns läuft und uns mitteilt, dass es eine Lärmbeschwerde der Anrainer bei der Polizei gab und wir deshalb auf die kleine Bühne ausweichen müssen. Da es de facto keine kleine Bühne gibt, haben sie einfach zwei Lautsprecher neben dem Getränkezelt aufgestellt und hoffen, dass das Publikum checkt, dass die nächsten beiden Acts (nach uns tritt noch eine Band mit dem absolut fantastischen Namen "Mr. Bamboostick" auf) dort spielen. Als wir dort ankommen, erklärt der Tontechniker allerdings, dass die Ersatzanlage einen Kurzschluss habe und nicht funktioniere und der Organisator gerät kurz in Panik bis er einfach sagt: "Ach scheiß auf die Polizei, ihr spielts auf der großen Bühne."

Da sich unser Auftritt inzwischen schon um eine halbe Stunde verzögert hat und wir trotzdem den letzten Bus zurück in die Stadt erwischen müssen, spielen wir ein zwanzigminütiges Set aus Liedern, Texten und betrunkenen Ansagen vor einem relativ verwirrten Publikum, in dem ein noch viel verwirrterer Österreichischer Expat steht, der wirklich nicht damit gerechnet hat, auf einem Festival in der Nähe von Taiwan eine Wienerische Poesieperformance zu sehen, bevor wir uns schnell bedanken und mit einer Hand unser Zeug packen, um Richtung Bus zu sprinten.

Elias Hirschls Auftritt beim Mayjam.
Foto: Jimmy Brainless

Oh, wie süß, Babykakerlaken

Die zwei darauffolgenden Tage hat es geregnet und ich hab mir "Avengers: Endgame" im Kino angeschaut. Ich fand den Film ok.

Drei Tage später kommen wir nach knapp viereinhalb Stunden Busfahrt frühmorgens in Taipeh an und machen uns unausgeschlafen und mit vollem Gepäck direkt auf zur Soochow Universität, deren Campus mitten im Grünen neben einem Fluss am Rande der Stadt in den Hügeln hängt, wo wir mit den Studierenden (die, wie bei fast allen Uni-Auftritten bisher, fast nur Frauen sind) einen Workshop zum Kreativen Schreiben unternehmen. Als wir eine Dreiviertelstunde später in unserer Unterkunft ankommen, wünsche ich mich sofort wieder in das Haus von Jimmys Opa zurück. Hier hat jemand all das falsch gemacht, wovor wir gewarnt wurden. Im Kühlschrank liegt noch ein bisschen altes Essen der Vormieter und deshalb oder davon unabhängig sind unzählige Kakerlaken durch die Kanäle hochgekrochen und kriechen und sterben jetzt in unserem Wohn- und Schlafzimmer, Küche und Bad.

Manche der Kadaver werden von einem Ameisenstrom erfasst, der sich längs von einem Riss neben der Abwasch bis zu einem Riss neben dem Klo zieht. Jimmy sagt, es sind Baby-Kakerlaken, was mich zuerst beruhigt, bis ich daran denke, dass das bedeutet, dass sie gerade erst geschlüpft sind und wir wohl exakt in der Schlüpfsaison hergekommen sind und irgendwo auch noch die Mutter-Kakerlaken versteckt sein müssen, die ich wirklich nicht finden möchte.

Elias beim Blogschreiben in der Kakerlakenunterkunft.
Foto: Jimmy Brainless

Vom Wohnungszustand zum Trinken motiviert finden wir uns noch am selben Abend bei einer etwas speziellen Veranstaltung wieder, die ein Bekannter von Jimmy, ein Deutschlehrer, mit seinen Schülern organisiert hat. Der Plan sieht so aus, dass wir gemeinsam Bier trinken und die Schüler vorbereitete Fragen an uns stellen: Über das Leben in Wien und Österreich, wobei die Fragen in ihrer Harmlosigkeit variieren von "Wie ist das mit dem Skisport?", über "Wie ist das mit den Kaffeehäusern?" bis hin zu "Wie ist das mit der neuen rechtsradikalen Regierung?". Behutsam und möglichst objektiv erklären wir den Studenten unter dem Einfluss mehrerer Dosen Bar (Ja, zu meiner Freude gibt es hier Bar!) also die derzeitige Lage in Österreich und warum Nazis im Allgemeinen nicht so toll sind und warum Nazis in Machtpositionen noch weniger toll sind. Im Umkehrschluss erklären uns die Studierenden ebenfalls schon etwas angeheitert die seltsame Lebenssituation als nicht anerkannter Staat und es ist wirklich interessant, nach der recht einseitigen chinesischen Sicht ("Taiwan ist einfach ein seltsamer Teil Chinas.") jetzt auch endlich die taiwanesische Sicht zu hören ("Wir sind zwar seltsam, aber definitiv kein Teil Chinas.").

Detailliert listen wir uns gegenseitig die Unterschiede zwischen China und Taiwan und die Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich und die Unterschiede zwischen Österreich und Taiwan und die Unterschiede zwischen den Unterschieden von Österreich und Deutschland und Taiwan und China auf am Ende des Gesprächs sind wir fröhlich genug, dass wir die Angst vor unserer eigenen Herberge überwinden können und betrunken ins Bett fallen. Jimmy meint, angeblich hat man Taiwan erst so richtig erlebt, wenn man dadurch aufwacht, dass einem eine Kakerlake übers Gesicht läuft. Ich setze mir den Mundschutz auf und warte vergeblich auf das beruhigende Schreien aus einer der Zimmerecken. Ich vermisse meinen Gecko. Mal sehen, wie das weiter geht. (Elias Hirschl, Jimmy Brainless, 11.5.2019)