Ausgebrannt fühlen sich viele Patientinnen und Patienten, weil sie kaum mehr Regenerationsphasen haben. Wer in seiner Freizeit ständig online ist, hält sein Hirn im Stress, obwohl es sich nicht so anfühlt.

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Wolfgang Lalouschek ist Neurologe und Coach, leitet das Gesundheitszentrum The Tree in Wien und koordiniert das Projekt Planet YES.

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STANDARD: Burnout ist ein zeitgeistiger Begriff. Früher gab es ihn nicht, sagen ältere Generationen und betonen, dass sie immer viel arbeiten mussten. Jüngere Generationen hingegen haben Angst, auszubrennen, und achten deshalb sehr streng auf die sogenannte Work-Life-Balance. Entspinnt sich über Burnout ein Generationenkonflikt?

Lalouschek: Ich denke, dass der Begriff Burnout von vielen Seiten missbraucht wird. Burnout oder die Angst vor Burnout ist eine Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Interessen.

STANDARD: Inwiefern?

Lalouschek: Der Begriff wird von unterschiedlichen Seiten instrumentalisiert. Während die Berufsvertretungen ihn als eine Art Druckmittel zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen instrumentalisieren, negieren Arbeitgebervertretungen den Begriff als Diagnose. Aus Sicht eines überforderten Arbeitnehmers ist Burnout eine Diagnose, aus der Sicht vieler Unternehmer ist Burnout vor allem ein privat erzeugtes Problem. Es kommt also stets auf den Standpunkt an. Burnout ist ein überaus dehnbarer Begriff.

STANDARD: Wie betrachten Sie als Arzt und Neurologe das Problem?

Lalouschek: Viele Patientinnen und Patienten, die zu mir kommen, fühlen sich im Burnout und diagnostizieren sich das Burnout selbst. Für mich ist es aber weniger eine Krankheit als eine Entwicklungskrise. Es sind Menschen, die erschöpft und mit einem inneren Nein durch ihren Alltag gehen. Dabei haben sie aber eine Sehnsucht danach, Ja zu sagen. Das ist für viele, die sich ausgebrannt fühlen, eine Grundstimmung.

STANDARD: Deshalb haben Sie eben auch ein Buch zum Thema herausgegeben. "Der Tag, an dem ich alles hinschmeiße", ist der Titel. Was war Ihre Absicht?

Lalouschek: Natürlich jene, ein Bewusstsein für die Entstehungsbedingungen des Ausbrennens zu schaffen und Auswege aufzuzeigen.

STANDARD: Weil Burnout als Thema ja auch ein Markt geworden ist?

Lalouschek: Natürlich. Es gibt viele Anbieter, die Menschen aus dem Burnout helfen wollen. Es sind Therapeuten, Coaches, Unternehmensberater, Energetiker, aber auch Psychotherapeuten, Ärzte und Buchautoren wie ich selbst. Auch die Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln wollen die Gruppe der Erschöpften ansprechen. Jeder hat sein eigenes Angebot und eigene Interessen. Es ist aber gleichzeitig auch ein Stück weit ein Blick auf den Zustand unserer Gesellschaft.

STANDARD: Und zwar?

Lalouschek: So ziemlich alle wollen uneingeschränkt leistungsfähig sein, sind rund um die Uhr online und gönnen sich wenig Zeit für sich selbst. Das sind gute Voraussetzungen fürs Ausbrennen.

STANDARD: Welches Unternehmen würde auf Leistungsbereitschaft verzichten?

Lalouschek: Um das geht es nicht, denn prinzipiell will jeder gesunde Mensch etwas Sinnvolles im Leben machen. Wir brauchen ein Ziel, sind dafür bereit, Energie zu investieren, und fühlen uns glücklich, wenn wir etwas erfolgreich abschließen. Das Problem in Unternehmen mit Burnout-Fällen ist aber nicht die mangelnde Leistungsbereitschaft, sondern die Leistungsmöglichkeit. Unfaire Situationen, unklare inhaltliche Ziele, unklare Rollenverteilung und hoher Druck sind systematische Leistungsvernichter.

STANDARD: Weil sie Stress machen?

Lalouschek: Vor allem andauernden Stress, der ganz besonders gesundheitsschädigend ist. Die Reaktionen der Menschen sind verschieden. Es gibt solche, die es aushalten. Es gibt die, die ins Burnout rutschen und plötzlich einfach nicht mehr die Kraft haben, sich dem auszusetzen, und es gibt jene Menschen, die in die innere Emigration flüchten, aber auch jene, die körperlich krank werden.

STANDARD: Aber vor allem jüngere Generationen achten deshalb sehr streng auf ihre Work-Life-Balance, was ältere immer fuchsteufelswild zu machen scheint.

Lalouschek: Bis zu einem gewissen Grad ist Burnout schon ein Generationsthema, allerdings gibt es da schon einen massiven Unterschied. Wer in den 1970er- und 1980er-Jahren jung war, arbeitete viel und hatte dabei eine Zuversicht, die heute überhaupt nicht mehr selbstverständlich ist.

STANDARD: Können Sie das genauer erklären?

Lalouschek: Die Generation Y und die Millennials haben ein großes Problem mit der Zukunft. Sie sehen sie in vielerlei Hinsicht in Gefahr. Es gibt Zwölfjährige, die Sorge haben, keinen Job zu bekommen. Diese Unsicherheit beeinträchtigt massiv und verursacht einen Stress, den es früher nicht gab. Da vertraute man auf die Zukunft.

STANDARD: Und woher kommt diese Sorge?

Lalouschek: Abgesehen von den gesellschaftlichen Entwicklungen gibt es auch hirnphysiologische Ursachen, die mit der ständigen Ablenkung zusammenhängen. Die gleichen Leute, die auf die Work-Life-Balance achten, sind meistens gleichzeitig auch die "digital natives" – also diejenigen, die mit den Smartphones mehr oder weniger aufgewachsen sind.

STANDARD: Wo ist da der Zusammenhang?

Lalouschek: Die ständige Ablenkung durch digitale Medien hat einen Effekt auf unser Gehirn, denn auch in der Freizeit gibt es plötzlich keine Ruhephasen mehr. Wer ständig online ist, bringt sein Gehirn um die lebenswichtigen Ruhephasen. Denn soziale Medien sind nur vermeintlich Freizeit, für das Hirn ist es Stress, das zeigen Messungen ganz deutlich. Unter Stress ist das limbische System im Gehirn aktiv. Es ist jene Funktionseinheit, die für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist. Angst und Unsicherheit sind starke Emotionen, die durch ständiges Multitasking ständig ins Bewusstsein gespült werden. Deshalb haben auch viele jüngere Menschen permanent eine latente Angst.

STANDARD: Soziale Medien schüren unbewusst Angst, sagen Sie?

Lalouschek: Ich will soziale Medien überhaupt nicht verteufeln, mir geht es um die ständige Ablenkung, die sie verursachen. Das hält Menschen davon ab, Projekte abzuschließen. Man hat den Eindruck, man wird nie fertig. Wer sich im wirklichen Leben etwas vornimmt und abschließt, hat ja auch hirnphysiologisch einen Gewinn.

STANDARD: Welchen Gewinn?

Lalouschek: Eine Dopaminausschüttung, das sind jene Neurotransmitter, die den Menschen glücklich machen. Ständige Ablenkung und Umschalten verbrauchen viel Arbeitsspeicher im Gehirn, der dann den eigentlichen Vorhaben fehlt. Weil der Mensch aber das Bedürfnis nach Erfolgserlebnissen und Dopamin hat, häufen sich die Ersatzbefriedigungen.

STANDARD: Welche Ersatzbefriedigungen?

Lalouschek: In erster Linie Konsum. Man sucht sich im Internet etwas aus und kauft es dann. Oder man konsumiert ein Videospiel und glaubt, damit etwas geschafft zu haben, auch wenn es nur ein weiterer Level im Spiel ist. Die Abgelenktheit und die damit verbundene Ängstlichkeit werden aber auch politisch ausgenutzt. Man muss sich nur anschauen, wie sehr politische Kampagnen mit den Ängsten der Menschen spielen. Angst macht manipulierbar.

STANDARD: Würden Sie also sagen, Smartphones sind toxisch für das Gehirn?

Lalouschek: Nein, auf keinen Fall. Es ist ähnlich wie ein Messer. Das kann nützlich und lebensgefährlich sein. Man sollte wissen, wie man diese neuen Werkzeuge einsetzt.

STANDARD: Und zwar wie?

Lalouschek: Nicht ständig und überall. Und es ist wichtig, Pausen zu machen. Für das Gehirn vor allem. Es gibt eine Untersuchung, die zeigt, dass im Jahr der Einführung des iPhones das persönliche Treffen von Freunden massiv zurückgegangen ist. Doch der Mensch ist ein soziales Wesen. 1.000 Freunde auf Facebook können niemals einen einzigen echten Freund ersetzen.

STANDARD: Warum?

Lalouschek: Das meiste im Gehirn des Menschen spielt sich unbewusst ab. Wenn man einen Freund trifft, werden unglaublich viele Gehirnareale aktiviert. Es gibt sogar eine Zahl: Bei einem Treffen mit einem wirklichen Menschen im echten Leben verarbeitet das Gehirn elf Millionen Bits pro Sekunde und schüttet das Bindungshormon Oxytocin aus, bei einer Chatnachricht sind primär nur 40 Bits pro Sekunde des Bewusstseins aktiv.

STANDARD: Wenn Sie diese Entwicklung weiterdenken, was wird passieren?

Lalouschek: Ich habe viele Patientinnen und Patienten jüngeren und mittleren Alters, die Angst haben, dement zu werden. Das ist eine Folge von Stress. Wenn das Gehirn zwölf Stunden lang unter Stress steht, wird permanent Cortisol ausgeschüttet, und das wiederum erhöht die Entzündungswerte und lässt Nervenzellen in den Gedächtnisarealen absterben.

STANDARD: Macht eigentlich auch ziemlich Angst?

Lalouschek: Muss es nicht, es geht darum, eine Überaktivierung zu vermeiden und jenen Level von Aktivierung für sich zu entdecken, an dem man besonders leistungsfähig ist. "To be in the zone" wird es im Leistungssport genannt.

STANDARD: Und wo ist diese Zone für Büroarbeiterinnen und Büroarbeiter?

Lalouschek: Eine gute Balance zwischen Kommunikation und Output, also Zeiten, in denen man fokussiert und produktiv sein kann. Zu viele Meetings sind meiner Erfahrung nach ein Beispiel für die systematische Leistungsvernichtung. Sie halten einen von der Arbeit ab. Und dieses Abhalten von der Arbeit erzeugt Unzufriedenheit. Ein inneres Nein ist die Folge, und das wiederum fördert Burnout besonders. (Karin Pollack, 29.5.2019)