Heribert Weber wollte seinen Mitspieler warnen. So, wie es sich für einen umsichtigen Kapitän gehört. Also nahm er Christian Fürstaller vor dem Uefa-Cup-Finale 1994 zur Seite, um über Dennis Bergkamp zu sprechen.

Für maximalen Lesegenuss empfehlen wir die offizielle Hymne: "Wir sind die Sieger".

Der Niederländer in den Reihen von Inter Mailand galt als einer der weltbesten Stürmer, Fürstaller als vorbildlicher Halbprofi in der Defensive der Salzburger Austria. Nebenbei verdiente der gelernte Schlosser sein Geld in der Spedition von Vereinspräsident Rudi Quehenberger.

Also sprach Weber: "Pass auf, der Bergkamp ist ein filigraner Spieler, technisch versiert. Er bewegt sich sehr gut und hat einen unglaublich schnellen Haken." Fürstaller zeigte sich ob der aufklärenden Worte wenig beeindruckt: "Bergkamp? Welche Position spielt der?"

Heribert Weber über das Selbstvertrauen: "Bergkamp? Welche Position spielt der?"

Weber muss schmunzeln, wenn er diese Anekdote erzählt. Natürlich wusste Fürstaller, heute ein erfolgreicher Unternehmer, um die Qualitäten seines Gegenspielers. Aber die Salzburger Kicker hatten im Laufe der Europacupsaison den Respekt vor großen Namen abgelegt. Knappe Erfolge gegen Sporting Lissabon, Eintracht Frankfurt und den Karlsruher SC hatten auf dem Weg ins Finale ihre Spuren hinterlassen.

Dabei war die Lage vor der ersten Runde gegen den slowakischen Vertreter Dunajská Streda finanziell angespannt. "Heri, wenn wir diese Runde nicht überstehen, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll", sagte der dem Risiko nicht abgeneigte Quehenberger zu Weber im Vertrauen. Salzburg gewann beide Partien mit 2:0. Der Auftakt zu einer europäischen Erfolgsgeschichte, an deren Ende ein Abend im Giuseppe-Meazza-Stadion stehen sollte.

7.000 Salzburger Fans eroberten Mailand. Manch einer machte schon vor dem Dom schlapp. Die anderen schwenkten unnachgiebig ihre Fahnen.
Foto: Horst Plankenauer

Am 11. Mai lief Weber mit dem Wimpel in der Hand vor 80.326 Zusehern zu jenem zweiten Finalspiel ein. Vor ihm der schottische Schiedsrichter James McCluskey, neben ihm die italienische Fußballikone Giuseppe Bergomi. Gänsehaut im Mailänder Stadtteil San Siro, der dem Kultstadion seinen ursprünglichen Namen gab.

"Es war unglaublich. Für die Spieler von Inter vermutlich nur Alltag, für uns aber ein einmaliges Erlebnis", erinnert sich Weber. Rund 7.000 Fans hatten die Austria in feucht-fröhlicher Atmosphäre in Sonderzügen nach Mailand begleitet. Spricht Weber über deren Unterstützung, gerät er ins Schwärmen: "So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Über all die Jahre haben sie mitgelitten und mitgefiebert. Bei Siegen wurden wir gefeiert, bei Niederlagen nicht in Frage gestellt, sondern getröstet. Die Anhänger sind mit uns gewachsen."

Heribert Weber über das Erfolgsrezept: "Wir sind gerannt wie die Viecher."

Als Weber 1989 im Alter von 34 Jahren zu Aufsteiger Salzburg wechselte, war an Höhenflüge nicht zu denken. "Man hat hinter vorgehaltener Hand über uns gescherzt", sagt der Steirer. Damals wurde der Klassenerhalt als Ziel ausgegeben. Eine neue Situation für Weber, der mit Rapid zuvor viermal österreichischer Meister geworden war: "Die Umstellung war am Anfang nicht einfach."

Doch spätestens mit der Verpflichtung von Trainer Otto Baric sollte es mit den Violetten ab 1991 "explosionsartig nach oben gehen". Die Mannschaft war gereift, und Baric gab ihr das taktische Rüstzeug für größere Aufgaben mit. Der Kroate wusste seine Mannen zu dirigieren. Und auch zu motivieren. Weit über die eigenen spielerischen Grenzen hinaus.

Nein, die Salzburger Finalisten waren keine außergewöhnlichen Feinmotoriker. Vielmehr bestachen sie durch Organisation, Laufbereitschaft und Kampfkraft. "In der Liga wusste jeder: Um uns zu schlagen, muss man mehr rennen als wir." Nachsatz: "Und wir sind gerannt wie die Viecher."

Hinten: Otto Konrad, Adi Hütter, Nicola Jurcevic, Wolfgang Feiersinger, Franz Aigner, Peter Artner. Vorne: Thomas Winkelhofer, Heribert Weber, Christian Fürstaller, Leo Lainer, Marquinho.
Foto: Horst Plankenauer

Die Qualitäten stachen auch auf europäischer Bühne. Mannschaften wie Sporting Lissabon und Eintracht Frankfurt waren Salzburg spielerisch überlegen – und mussten sich trotzdem geschlagen geben.

Endgegner Inter Mailand plagte sich zwar in der Serie A, dennoch traten die Nerazzurri mit Spielern von Weltklasse an: Da waren nicht nur Bergkamp und Bergomi, sondern auch der mehrmalige Welttorhüter Walter Zenga, der uruguayische Stürmerstar Rubén Sosa und der italienische Teamspieler Nicola Berti, der bereits im Hinspiel von Wien zum 1:0-Sieg für Inter getroffen hatte.

Heribert Weber über den Optimismus: "Wir waren in Trance, in Euphorie."

Trotz der Hypothek einer Heimniederlage trat Salzburg zum Rückspiel durchaus hoffnungsfroh an: "Wir sind mit dem Glauben nach Mailand gefahren, dieses Match gewinnen zu können. Das erste Spiel hatte unsere Möglichkeiten aufgezeigt." Dass die torgefährlichen Spieler Heimo Pfeifenberger und Hermann Stadler aufgrund ihrer Sperren zusehen mussten, tat dem Optimismus keinen Abbruch: "Es war völlig egal, wer spielen konnte. Wir waren in Trance, in grenzenloser Euphorie."

An gewisse Personalsorgen kann sich Weber gleichwohl erinnern: "Da auch Nikola Jurčević angeschlagen war, haben wir sogar überlegt, ob ich nicht Mittelstürmer spielen soll. Aber nur kurz." Humor à la Weber.

Baric hatte seine Mannschaft in Mailand einmal mehr mit einer leidenschaftlichen Ansprache auf das Match eingeschworen: "Er war nach der Spielerbesprechung schweißgebadet. Das war aber nicht ungewöhnlich. Wir kannten ihn gar nicht anders."

Heribert Weber lässt Dennis Bergkamp keinen Zentimeter Platz. Peter Artner beobachtet die Szene aus sicherer Distanz.
Foto: Horst Plankenauer

Die kontrollierte Defensive war dem Trainer als Rezept für langfristigen Erfolg heilig, die Mann-im-Raum-Deckung galt ihm dabei als Goldstandard. Drang ein Gegenspieler in die Zone vor, wurde er manngedeckt.

Pferdelungen wie Wolfgang Feiersinger und Thomas Winklhofer konnten dieses laufintensive System umsetzen: "Die hatten eine Kraft in sich, das war schlicht phänomenal." Im Angriffsdrittel sollte wiederum Jurčević für Pressing sorgen: "Der hat nie eine Ruhe gegeben."

Heribert Weber über sein Spiel: "Ich hatte immer Offensivdrang."

Weber gab zwischen Christian Fürstaller und Leo Lainer den Libero, aber keineswegs einen klassischen: "Ich spielte auf einer Höhe mit den zwei Verteidigern, manchmal davor, fast schon zentraler Mittelfeldspieler. Als gelernter Stürmer hatte ich immer Offensivdrang. Gegen eine Topelf beginnt man aber defensiver und rückt nur bei Gelegenheit auf."

Bis zur Pause hielt sich Salzburg mit Angriffen zurück, die Partie war von gegenseitigem Respekt geprägt. Der Austria mangelte es an Kreativität, hinten hielt Torhüter Otto Konrad das 0:0 fest und damit das Spiel offen.

In der zweiten Halbzeit stockte den Tifosi der Atem, die beste Phase der Salzburger kulminierte in einem Weitschuss des Brasilianers Marquinho: Der Ball prallte in der 57. Minute von der linken Innenstange ab, rollte entlang der Linie zur rechten Stange – und von dort zurück ins Feld.

57. Minute: Der legendäre Stangenpendler von Marquinho. Quasi ein Ding der Unmöglichkeit.
90er TV
62. Minute: Wim Jonk trifft zum 1:0 für Inter Mailand. Weber: "Am Ende fehlte die Offensivkraft."
90er TV

Nur wenige Minuten später ließ der Niederländer Wim Jonk Leo Lainer ins Leere grätschen und hob den Ball über Konrad ins Tor. Die Entscheidung war gefallen, Salzburg kam nicht mehr zurück. "Am Ende fehlte uns die Offensivkraft. Und auch das Quäntchen Glück."

Konrad legte sich gleich nach dem Abpfiff am Mittelkreis nieder, ließ sich von der Stimmung im San Siro berieseln. Weber haderte mit der unglücklichen Niederlage. Es war sein zweites verlorenes Endspiel, das erste absolvierte er 1985 mit Rapid gegen Everton: "Aber wir konnten uns nichts vorwerfen. Ich bin in jedes Kopfballduell gegangen, als wäre es das letzte meines Lebens."

Heribert Weber über Einsatz: "Ich bin in jedes Kopfballduell gegangen, als wäre es das letzte meines Lebens."

Auch die italienischen Fans honorierten die Leistung des Außenseiters: "Wir haben Ehrenrunden gedreht. Die Fans haben uns wie der eigenen Mannschaft applaudiert. Das haben wir genossen", erzählt Weber. Nachsatz: "Wenn man verliert, applaudieren die Italiener eben gerne."

Es ist nicht die fußballerische Leistung, die Weber als einzigartig erachtet, sondern die in Österreich ausgelöste Euphorie: "Dass eine Mannschaft aus den Bundesländern das Happel-Stadion problemlos füllen kann, hätte ich nicht für möglich gehalten. Es war eine Kettenreaktion. Mit jedem Sieg wurden es mehr Fans. Man hat uns gefeiert wie eine Popband."

Die Erklärung hat Weber an der Hand: "Wir spielten für Österreich. Auch die Wiener Fußballfans gönnten uns die Erfolge. Wir waren sympathische Burschen, die leger aufgetreten sind, das hat den Menschen gut gefallen. Wir haben Fehler gemacht, aber jeder hat gesehen, dass diese Mannschaft am Platz alles gibt. Das wurde über Vereinsgrenzen hinweg anerkannt."

Das Ende einer langen europäischen Reise. Die Salzburger verabschieden sich vom Publikum im Giuseppe-Meazza-Stadion.
Foto: Horst Plankenauer

Drei Tage nach dem Endspiel verlor Salzburg gegen den VfB Mödling mit 2:3. Der Boden hatte die Austria kurz wieder, ehe sie im Juni trotzdem den ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte fixierte.

Heribert Weber beendete mit diesem Erfolg nach 573 Bundesliga-Spielen fast 39-jährig seine aktive Karriere: "Ich habe in meiner letzten Saison gesehen, was Wille und Selbstvertrauen im Fußball bewirken können. Eine unbezahlbare Erfahrung."

Drei Jahre später hatten Leistungsträger wie Konrad, Pfeifenberger, Artner, Feiersinger und Jurčević den Verein bereits verlassen. Heribert Weber führte Austria Salzburg als Trainer zur Meisterschaft. (Philip Bauer, 11.5.2020)

Zahlen und Fakten:

Ticket zum Hinspiel am 26. April 1994.
Foto: FC Salzburg Wiki

SV Austria Salzburg – Inter Mailand 0:1 (0:1)

Zuseher: 47.500 (Wien, Ernst-Happel-Stadion)

Torfolge: 0:1 Nicola Berti (35.)

Austria Salzburg: Otto Konrad – Leopold Lainer, Heribert Weber , Thomas Winklhofer (61. Michael Steiner), Christian Fürstaller, Franz Aigner, Martin Amerhauser (46. Damir Mužek), Peter Artner, Marquinho, Heimo Pfeifenberger, Hermann Stadler

Inter Mailand: Walter Zenga – Antonio Paganin, Angelo Orlando, Wim Jonk, Giuseppe Bergomi , Sergio Battistini, Alessandro Bianchi, Antonio Manicone, Nicola Berti, Dennis Bergkamp (89. Francesco Dell'Anno), Rubén Sosa (75. Riccardo Ferri)

Ticket zum Rückspiel am 11. Mai 1994.
Foto: Jürgen Heimhofer

Inter Mailand – SV Austria Salzburg 1:0 (0:0)

Zuseher: 80.326 (Mailand, Giuseppe-Meazza-Stadion)

Torfolge: 1:0 Wim Jonk (62.)

Inter Mailand: Walter Zenga – Antonio Paganin, Davide Fontolan (67. Riccardo Ferri), Wim Jonk, Giuseppe Bergomi , Sergio Battistini, Angelo Orlando, Antonio Manicone, Nicola Berti, Dennis Bergkamp (89. Massimo Paganin), Rubén Sosa

Austria Salzburg: Otto Konrad – Leopold Lainer, Heribert Weber , Thomas Winklhofer (67. Martin Amerhauser), Christian Fürstaller, Franz Aigner, Nikola Jurčević, Peter Artner (73. Michael Steiner), Marquinho, Wolfgang Feiersinger, Adi Hütter

So berichtete DER STANDARD aus Mailand.

Der Weg ins Finale

Austria Salzburg

1. Runde: Dunajska Streda 2:0 und 2:0
2. Runde: Royal Antwerpen 1:0 und 1:0
Achtelfinale: Sporting Lissabon 0:2 und 3:0 n. V.
Viertelfinale: Eintracht Frankfurt 1:0 und 0:1 (5:4 i. E.)
Halbfinale: Karlsruher SC 0:0 und 1:1

Inter Mailand

1. Runde: Rapid Bukarest 3:1 und 2:0
2. Runde: Apollon Limassol 1:0 und 3:3
Achtelfinale: Norwich City 1:0 und 1:0
Viertelfinale: Borussia Dortmund 3:1 und 1:2
Halbfinale: Cagliari Calcio 2:3 und 3:0

Hinweis

Dieser Artikel wurde auf derStandard.at bereits zum 20-Jahr-Jubiläum 2014 veröffentlicht. Der Stangenpendler geht aber noch immer nicht rein. Nächstes Mal probieren wir es wieder. Irgendwann zappelt er im Netz.