Der US-Historiker Timothy Snyder betont in seiner "Rede an Europa" die Einzigartigkeit der Union. Diese müsse sich ihrer Vergangenheit stellen, um eine Zukunft haben zu können.

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Hinter ihm steht das Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Shoah, auf dem Sockel liegen einige welke Rosen. "You are more than your myths", beginnt Timothy Snyder seine Rede an Europa: "Sie sind mehr als Ihre Mythen." Aus seiner Sicht, aus der eines US-Amerikaners, wendet der Historiker der Universität Yale sich direkt an die zuhörenden Europäer.

Zeit und Ort der Rede, die Wiener Festwochen, Erste Stiftung und das Institut für die Wissenschaften vom Menschen IWM unterstützten, sind nicht zufällig gewählt: Es ist der 9. Mai, der Tag, an dem 1950 mit der Rede des französischen Außenministers Robert Schumann der Grundstein der heutigen Europäischen Union gelegt wurde. Der Platz, auf dem Snyder, der zum Holocaust forscht, steht, war einmal ein Schulhof – und bis 1421 Zentrum des jüdischen Lebens in Wien.

In seiner Rede fragt Snyder, wie des Holocausts, des Zweiten Weltkriegs und des Beginns des europäischen Projekts gemeinsam gedacht werden könne. Und zwar so, dass die Geschichte auch in die Zukunft leiten könne.

Snyder spricht von Europas Vergangenheit: von gescheiterten Imperien, blutigen Kolonialkriegen und dem Zweiten Weltkrieg. Vor allem aber spricht er von der Einzigartigkeit der Europäischen Union: "Für uns sind Sie eine Quelle der Hoffnung, vielleicht die einzige Quelle der Hoffnung für die Zukunft", sagt er.

Doch auch die EU befinde sich am Scheidepunkt. Sie müsse sich ihrer Geschichte stellen und dürfe nicht an ihren Mythen festhalten, mahnt Snyder:

"Was in der EU von innen heraus nicht sichtbar ist, aber so klar ist von außen, ist, dass die Europäische Union die einzelnen europäischen Staaten stärkt. Diese ganze Debatte um Souveränität, die Sie in der EU führen, ergibt keinen Sinn. Es gab nie zuvor so viele europäische Staaten nebeneinander. Der Grund, warum die europäischen Staaten nach innen und nach außen so stark sind, ist die EU."

Die EU als weltweit einzigartiges Konstrukt sei die einzig sinnvolle Antwort darauf, wie es nach der Zeit der Imperien weitergehen konnte. Stelle Europa sich seiner Vergangenheit, dann gehe es – so Snyder – auch um Macht:

"Sie haben sich selbst entmachtet, indem Sie Ihre Vergangenheit falsch verstehen. Wenn Sie sehen wollen, wie das woanders aussieht, schauen Sie auf die USA. Das aktuelle Amerika ist ein direktes Ergebnis davon, dass wir unsere imperiale Vergangenheit falsch verstanden haben. Sie sind nicht weit entfernt von uns, aber Sie haben noch eine Chance, es besser zu machen."

Snyder, der als einer der schärfsten Kritiker der Trump-Regierung gilt, warnt davor, dass Zustände wie die angebliche Konkurrenz um Lebensgrundlagen ("ökologische Panik"), Entmenschlichung und die Aushöhlung von Staaten, die einst in den Holocaust geführt hätten, auch heute eine Gefahr darstellten.

In vielen Dingen ist es für ihn allein die EU als nichtnationalstaatliches System, die noch etwas ausrichten könne, etwa im Kampf gegen digitale Bedrohungen wie die Beeinflussung von Wahlen. Denn nur die EU habe die entsprechenden Mittel dazu.

"Die europäische Erzählung ist eine nette Story, in der nette, unschuldige, kleine, europäische Nationalstaaten bemerkten, dass wirtschaftliche Interessen sie verbinden. Das ist eine nette Erzählung, aber das ist nicht Geschichte. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist jene europäischer Mächte, die die vergangenen 500 Jahre die Welt dominiert hatten und sich gezwungen sahen, sich nach Europa zurückzuziehen."

Den Nationalstaat erklärt Snyder zum Mythos; und dass die EU überhaupt Feinde hat, finde er "interessant". Warum das so sei? "Weil Sie eine Zukunft haben!" Genau diese aber versuchten einige, der Union nun zu nehmen.

Der Historiker scheut sich nicht, auch Interna der EU anzusprechen, und mahnt, nicht denjenigen eine Stimme zu geben, die den Klimawandel leugnen und Geflüchtete als Bedrohung ansehen.

Seine Rede beendet er schließlich mit seinem ersten Satz auf Deutsch: "Ich kann nur reden, Sie müssen es schaffen." (Milena Pieper, 11.5.2019)