Salzburg – Meine Sorge vor einem zähen Gespräch war unbegründet. Michael Brünner hat schon Erfahrung im organisierten Streiten. Der 53-jährige Bayer hat im Vorjahr an "Deutschland spricht" teilgenommen, er kennt das Format. Jetzt also "Europa spricht": Der Algorithmus hat uns zusammengeführt, um uns diskutieren zu lassen.

Wir waren uns nur in einer der gestellten Fragen uneinig, das machte mich im Vorfeld unrund, aber auch neugierig: Sollte Europa eine engere Verbindung zu Russland haben? Er sagt: Ja. Ein Russland-Versteher? Soll man die widerrechtliche Annexion der Krim schulterzuckend hinnehmen? Mir ist schleierhaft, wie man als europäisch denkender Mensch so eingestellt sein kann. Ich bin gespannt auf Brünners Erklärung. Aber dazu später mehr.

Unternehmer Michael Brünner und STANDARD-Redakteur Sebastian Fellner diskutierten fast drei Stunden in Salzburg – am meisten spießte es sich bei der Frage der Russland-Sanktionen.
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Realitäten im Zugabteil

Vom Smalltalk – wir treffen uns in Salzburg quasi in der Mitte und sind beide mit dem Zug angereist – sprudelt das Gespräch fast wie von allein zum Thema soziale Medien, Filterblasen und was das mit einer Demokratie macht, wenn alle in ihrer eigenen kleinen Blase leben.

Brünner beschäftigt das: Er hat eine gut dreistündige Zugfahrt hinter sich, "da ist jeder in seiner eigenen Realität, auch wenn sie räumlich am gleichen Ort sind" – einer schaut einen Spielfilm, der andere liest Nachrichten, niemand bekommt etwas vom anderen mit. Früher, sagt Brünner, sei man in so einer Situation ins Diskutieren mit Fremden gekommen, mit anderen Meinungen konfrontiert worden. Auch wenn er nicht zu denen gehören will, die die Vergangenheit verklären.

Mythos Stammtisch

Ich versuche die Gegenrede. Das mag ja alles sein, aber war es früher besser? Wenn man will, kann man sich heute mit Menschen auf der ganzen Welt austauschen, hat eine unfassbare Menge an Informationen zur freien Verfügung – während man noch vor einigen Jahrzehnten kaum aus dem eigenen Dorf gekommen ist, der analogen Filterblase. Und den vielbeschworenen Stammtisch, wo die unterschiedlichsten Meinungen aneinandergekracht seien, den halte ich für einen Mythos.

Den Ingenieur aus Deutschland beeindruckt das nicht. Na klar, wer es darauf anlegt, kann online mit einer Arbeiterin aus Indien debattieren – aber wer macht das schon? Er vermisst den harten politischen Diskurs, die sachliche Debatte. Weil es bei Onlinemedien um Klicks gehe, meint Brünner eine Boulevardisierung der gesamten Medienlandschaft zu erkennen. Es gehe nur noch darum, Gefühle anzusprechen. Er wünscht sich aber eine sachliche Diskussion.

Ein Russland-Versteher?

Dass uns für diese Diskussion der Stoff ausgeht, hätte ich also nicht befürchten brauchen – zumal ich als Journalist für Brünner natürlich ein dankbarer Adressat für eine sanfte Medienschelte bin. Dabei hat es so ausgeschaut, als wären wir uns ein bisschen zu einig für ein Streitformat: Brünner sieht sich als Proeuropäer und lehnt Nationalismus ab. Er plant mit seinem Ingenieursbüro nachhaltige Energiesysteme für Private, Kommunen und Firmen und bemüht sich um ein nachhaltiges Leben. Nur bei der Russland-Frage hakt es.

Rote Linien und historische Hintergründe

Ich spreche das Thema also an und lasse Herrn Brünner erklären. Die Ukraine sei ja selbst alles andere als ein demokratischer Musterstaat. Ihm ist die Lage aus der Entfernung zu unübersichtlich: "Wo steht eigentlich die Mehrheit der betroffenen Bevölkerung auf der Krim? Aus der Distanz erscheint es mir, dass wieder einmal Weltpolitik über deren Köpfe ausgetragen wird." Er sieht weltweit gravierendere Menschenrechtsverletzungen als auf der Krim, wo die Union nicht so drastisch oder gar nicht reagiert.

Brünner: "Wo steht eigentlich die Mehrheit der betroffenen Bevölkerung auf der Krim? Aus der Distanz erscheint es mir, dass wieder einmal Weltpolitik über deren Köpfe ausgetragen wird."
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Brünner ist auch historisch eindeutig besser bewandert als ich, er spricht über die energiepolitische Stellung der Ukraine in der Sowjetunion und dass es nach deren Zerschlagen "wie bei einer Scheidung" keine Gewinner gegeben habe. Das alles müsse man berücksichtigen.

"Da muss man doch Stopp sagen"

Ich widerspreche grundsätzlich (zugegeben: nicht nur, aber auch, weil Herr Brünner mir bezüglich der historischen Hintergründe überlegen ist). Wenn in Europa heute mit militärischer Gewalt Grenzen verlegt werden, kann das die Union nicht hinnehmen. Punkt. "Da muss man doch ganz deutlich Stopp sagen", meine ich. Zumal die baltischen Staaten und Finnland bezüglich Russland ganz eigene, berechtigte Sorgen haben.

Brünner hält Sanktionen, wie die EU sie gegen Russland verhängt hat, aber an sich für kontraproduktiv. "Bedeutet das dann, dass die Russen da wieder rausgehen, weil sie sagen: Ui, das ist jetzt schwierig?" Er schließt das aus. Noch nie hätten Sanktionen irgendeine Situation verbessert, sagt er. Das nicht, entgegne ich – aber die Aussicht, sie wieder aufzuheben, sehr wohl. Aber ich verstehe Brünners Position und finde sie nicht mehr so abwegig. Wir werden uns nicht einig und finden das in Ordnung.

Zurück zum Konsens

Zumal wir ja genügend Konsens in anderen Themen haben. Wir diskutieren also insgesamt fast drei Stunden und sprechen über Klimapolitik, Nachhaltigkeit, wie unverschämt teuer Zugfahren in Deutschland ist, während Flüge spottbillig angeboten werden. Über rechtsextreme Provokationen und wie man dem begegnen soll und über die EU-Wahlen. Dann fährt Brünner heim nach Bayern, ich zurück nach Wien. Den Krim-Konflikt werden andere lösen. (Sebastian Fellner, 13.5.2019)