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Nigel Farages neue EU-Austrittspartei erhält laut einer Umfrage Rückenwind. Eine absolute Mehrheit der Briten, wie bei der Brexit-Abstimmung, steht aber nicht hinter dem Kurs.

Foto: REUTERS / SCOTT HEPPELL

Angesichts anhaltender Unsicherheit über den geplanten EU-Austritt dominiert der langjährige Europa-Abgeordnete Nigel Farage den britischen Wahlkampf. Gut zehn Tage vor der Europawahl sehen Umfragen die neue Brexit-Partei (BP) des Nationalpopulisten deutlich vor den etablierten Gruppierungen, der konservativen Regierungspartei von Premierministerin Theresa May droht sogar ein katastrophaler Absturz. Als letzten Ausweg hofft die Regierungschefin auf eine neuerliche Abstimmung im Unterhaus über den bereits dreimal abgelehnten Austrittsvertrag; die für Montag nachmittag geplanten Gespräche mit der Opposition sollen dafür den Weg ebnen.

Am Sonntag erregte eine neue Umfrage der Firma Opinium Research für die Zeitung Observer die politischen Gemüter auf der Insel: Demnach wollen sich 34 Prozent der Wähler für BP entscheiden, mehr als für die beiden bisherigen Großparteien Labour (21) und Tories (11) zusammen. Die Regierungspartei würde von den pro-europäischen Liberaldemokraten (12) auf Platz Vier verwiesen. Dieselbe Rangfolge, wenn auch mit deutlich anderen Zahlen, ergab eine Umfrage von ComRes: Diesem Unternehmen zufolge läge BP (27) nur knapp vor Labour (25).

Protestabstimmung

Mitglieder von Mays Regierung spielten die Zahlen herunter. Zu viele Menschen würden die ungeliebte Europawahl auch diesmal "als ultimative Protestabstimmung" sehen, glaubt Bildungsminister Damian Hinds. Tatsächlich gewannen Farages Nationalpopulisten, damals noch unter dem Ukip-Label, schon vor fünf Jahren die meisten Stimmen (27,4 Prozent). Die Beteiligung lag damals bei kaum mehr als einem Drittel.


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Die Labour-Party unter der Führung Jeremy Corbyns würde laut Umfragen den zweiten Platz bei der EU-Wahl erreichen. Der Trend bei der Wählergunst geht jedoch bergab.
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Diesmal dreht sich fast alles um die Person des seit 20 Jahren dem Brüsseler Parlament angehörigen Hohepriesters der EU-Gegnerschaft. Der Urnengang sei "ein Votum für den Farage-Brexit oder dagegen", glaubt etwa Labours Ex-Premier Tony Blair und beschwört seine Landsleute, an der Wahl teilzunehmen: Wenn sie sich nicht dazu überwinden könnten, ihr Kreuz bei der arg lavierenden Arbeiterpartei zu machen, sollten sie wenigstens EU-freundliche Gruppierungen wählen. Deren neueste, die sogenannte Change UK (Chuk), nutzt ihren TV-Werbespot zu einer Aufforderung an Farage, er solle sich in einer Live-Debatte mit Chuk-Sprecherin Heidi Allen messen.

Viel Geld und Aufmerksamkeit

Ausgestattet mit offenbar großzügigen Spenden eingefleischter EU-Gegner, darunter frühere Unterstützer der Tories, hat BP eine Reihe von professionell durchgestylten Großkundgebungen organisiert. Tausende von Unterstützern und Schaulustigen tragen mit ihrem Eintrittsgeld von 2,50 Pfund (2,89 Euro/3,29 Franken) zum Wahlkampfbudget bei. Wenn BP-Kandidaten wie die frühere Tory Anne Widdecombe oder die revolutionäre Marxistin Claire Fox die Menge im Saal ausreichend aufgeheizt haben, springt Farage auf die Bühne und bezichtigt die Premierministerin, May habe die Briten "absichtlich getäuscht" und "um den Brexit betrogen". Das Publikum antwortet mit lautstarken Buhrufen, wann immer May erwähnt wird.

Viele britische Medien verstärken den Farage-Effekt durch Begeisterung, unterlassen jedenfalls Nachfragen, etwa nach dem völlig fehlenden BP-Programm. Wie dünnhäutig der Propagandist einer "demokratischen Revolution" bei Widerspruch sein kann, demonstrierte am Sonntag das BBC-Programm des langjährigen Chefkommentators Andrew Marr. Fragen nach seinen politischen Positionen, einem zweiten Referendum oder den verheerenden wirtschaftlichen Folgen des von ihm neuerdings propagierten Chaos-Brexit ("No Deal") versuchte Farage auszuweichen, sprach von einem absolut lächerlichen Interview und bezeichnete den öffentlich-rechtlichen Sender anschließend wegen dessen "skandalöser Befangenheit" als "Feind".


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Theresa May droht in ihrer Führungsrolle von der politischen Bühne zu verschwinden. Der EU-Wahlkampf gibt enttäuschten Bürgern eine unerwartete Chance für einen Denkzettel.
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May angezählt

Theresa May wiederum könnte bereits in der kommenden Woche einen Termin für ihren Rücktritt bekanntgeben. Das sagte der Vorsitzende des einflussreichen 1922-Komitees der Konservativen Partei, Graham Brady, der BBC am Samstag. Dieses Komitee der britischen Tories ist dafür zuständig, die Wahl des Parteichefs zu organisieren. Eine Schlappe bei der EU-Wahl könnte ihren Rückzug nach Ansicht von Beobachtern beschleunigen.

May sei gebeten worden, am kommenden Mittwoch vor dem Gremium Klarheit über ihre Pläne für die Zukunft zu schaffen, sagte Brady. Die Regierungschefin gilt bereits seit der vergangenen Parlamentswahl im Sommer 2017 als angezählt. Mays Konservative verloren bei der kurzfristig anberaumten Wahl ihre Mehrheit im Unterhaus. Eiligst zimmerte die Regierungschefin damals eine Minderheitsregierung mithilfe der nordirisch-protestantischen DUP (Democratic Unionist Party) zusammen.

Doch das erwies sich als fatal für ihre Bemühungen, eine Mehrheit im Parlament für das mit Brüssel ausgehandelte Abkommen über den geplanten EU-Austritt Großbritanniens zu bekommen. Drei Mal ist May damit bisher gescheitert. Die Frist für den Brexit wurde inzwischen bis 31. Oktober verlängert. May hat bereits angekündigt, abtreten zu wollen, wenn der Deal vom Parlament angenommen ist, ohne jedoch einen Zeitpunkt zu nennen.

Zum Gehen gezwungen werden kann die Regierungschefin kaum. Nach Tory-Parteiregeln kann nur einmal in zwölf Monaten ein Misstrauensvotum abgehalten werden. Ein entsprechender Versuch scheiterte im Dezember vergangenen Jahres. (Sebastian Borger, red, 12.5.2019)