Wenn sich die Prognosen für die EU-Wahlen bewahrheiten, steht ein tiefgreifender machtpolitischer Umbruch bevor. Sowohl Christ- wie Sozialdemokraten dürften markante Mandatsverluste erleiden. Der roten Fraktion droht in großen EU-Staaten wie Frankreich und Italien gar ein Desaster.

Nach dem Wahltag wird die einfache schwarz-rote Mehrheit im EU-Parlament weg sein: Man braucht dann mindestens eine dritte Fraktion, um die neue EU-Kommission ins Amt zu wählen. Wer wird also "Königsmacher"?

Illusorische Koalitionen

Die diversen EU-skeptischen, rechtspopulistischen bis extrem rechten Parteien scheiden als Mehrheitsbringer aus. Sie werden zwar an Mandaten deutlich zulegen, umso mehr, als Großbritannien mitwählt. Paradoxerweise bleibt die Spaltung des "rechten Lagers" deshalb aufrecht. Keiner will mit ihnen einen Deal machen.

Aber auch Koalitionen, die weltanschaulich gut passten, sind illusorisch. Weder ginge sich eine links-liberal-grüne Mehrheit aus, noch könnten die Christdemokraten eine ausreichende christlich-konservativ-liberale Achse bauen.

Projekt mit dreifachem Ziel

Genau das ist der wunde Punkt, an dem der französische Präsident Emmanuel Macron ansetzt. So wie er 2017 in Frankreich das Parteiensystem mit seiner Bewegung auf den Kopf gestellt hat, probiert er das nun auf EU-Ebene. Sein Projekt zur Schaffung einer breiten "Renaissance"-Fraktion hat ein dreifaches Ziel, als Vehikel sollen ihm dabei die Liberalen dienen, die bereitwillig mitspielen: Macron will alle traditionellen Parteien abgrasen, auch die Grünen. Er hofft, seine radikalen EU-Reformideen erzwingen zu können – samt einem Kommissionschef seiner Wahl. Und er könnte langfristig, wenn die Briten weg sind, seine Machtansprüche als Vertreter einer EU-Großmacht besser zur Geltung bringen. Ein verwegener Plan – aber nicht ohne Chance auf Realisierung. (Thomas Mayer, 12.5.2019)