Jin Hu ist Apothekerin in der Adlerapotheke in Wien-Ottakring und mischt Rezepte aus vielen Pflanzen. In der TCM zählt das Zusammenspiel vieler Wirkstoffe, in der westlichen Medizin setzt man auf isolierte Moleküle.

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Ein TCM-Arzt fühlt den Puls. In der traditonellen chinesischen Medizin gibt es 28 Pulsarten, die Aussagen über den Zustand der Organe geben.

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"Bitte den Mund aufmachen, die Zunge rausstrecken, nicht anspannen." Das ist der Satz, den jeder Patient und jede Patientin von Verena Baustädter in ihrer Praxis für traditionelle chinesische Medizin hört, denn die TCM-Funktionskreise des Körpers können auf der Zunge bestimmt werden. Lokalisiert sind Leber und Gallenblase an den Seiten, hinten befinden sich die Nieren und der Darm, in der Mitte der Zunge diagnostiziert man Milz und Magen, Lunge und Herz werden der Zungenspitze zugeordnet. Ein Beispiel: "Ist die Zunge gerötet, und/oder hat sie rote Punkte, zeigt das Hitze im Körper", erklärt die Allgemeinmedizinerin.

Es ist keine Bestandsaufnahme von Beschwerden, sondern eine gesamtheitliche Betrachtung des Patienten. Alles sei wichtig, auch Kleinigkeiten, die in der modernen Medizin keine Erwähnung finden. Eine authentische TCM-Diagnose brauche Zeit, die privat zu bezahlen ist. Eine Stunde kostet rund 100 Euro, Einkommensschwache zahlen weniger.

Zeit für Untersuchung

Neben einer genauen Befragung erfolgen auch eine Betrachtung des äußeren Erscheinungsbildes und der Verhaltensweisen des Patienten (genannt wàng), das Wahrnehmen des Geruchs des Patienten und der Körpergeräusche (wén) sowie das Ertasten des Pulses (qie). Baustädter nimmt dazu die Hände des Patienten und legt Zeigefinger, Mittelfinger und Ringfinger unterhalb des Handgelenks an und drückt sanft. Durch Erhöhen des Drucks entstehen drei unterschiedliche Pulstiefen. Cun, guan und chi sind die Positionen, an denen sie einzelne Organsysteme ertastet. Es gibt 28 Pulsqualitäten.

Am Ende der TCM-Diagnostik misst Baustädter den Blutdruck und studiert vorhandene Befunde. Lebensbedrohliche Krankheiten müssten auch nach westlicher Medizin versorgt werden. Als Begleitbehandlung etwa bei Chemotherapie sei die TCM aber gut einsetzbar. Essgewohnheiten zu evaluieren und eventuell umzustellen, Akupunktur, Massage, Atem- und Bewegungstechniken sind Teil der traditionell chinesischen Therapie. Die weitaus häufigste Maßnahme sind aber Rezepte für natürliche Arzneitees.

Die chinesische Apotheke

Ein Stockwerk unter der TCM-Praxis steht Jing Hu vor Regalen mit hunderten silbernen Aluminiumdosen. Hier in der Adlerapotheke in Wien-Ottakring gibt es über 400 verschiedene chinesische Arzneien, die meisten sind Teile von Pflanzen. Die Auswahl reicht vom Samenmantel über Zweigspitzen, Rinde, Stängelmark bis zu Baumharz. Selten wird auch anorganisches Material (Gips) und Tierisches wie Tausendfüßler und Zikadenhüllen verwendet. "Der Artenschutz wird in Österreich streng eingehalten. Im Internet bekommt man leider immer noch viel nichtverifizierte Ware", warnt Hu.

Auf die Behälter sind chinesische Schriftzeichen gemalt. Die im chinesischen Sanming geborene Pharmazeutin nimmt die getrockneten Arzneien aus der Dose und legt sie auf eine Waage. Zuerst die geschlossenen Magnolienblüten, die aussehen wie zu groß geratene Palmkätzchen, dann geschnittene sibirische Engelwurz und die japanischen Geißblattblüten. Dann mischt sie sie laut Rezeptur der Ärztin. "Jede Zutat hat eine Bedeutung. Es gibt sogenannte Helfer, Minister und Kaiser. Der Kaiser in diesem Rezept ist die Magnolienknospe, sie ist die wirksamste Droge des Rezepts", erklärt Jing Hu. Oft werden chinesische Drogen gleich nach der Ernte vorbehandelt. Zum Beispiel fermentiert, in Wein oder Honig geröstet, das erschließt andere Wirkstoffe und macht einige giftige Pflanzen unschädlich.

Dekokt oder Granulat

Die Kräutermischungen aus der TCM-Apotheke müssen die Patienten zu Hause dekoktieren. Die Kräuter köcheln zweimal 30 Minuten lang vor sich hin und sollen dann mehrmals am Tag lauwarm getrunken werden. Für Bequeme gibt es Trockengranulat, das nur noch mit Wasser aufgegossen werden muss. Die meisten Menschen hätten zu viel Wärme im Körper, dafür braucht es "Hitze nach unten ableitende"-TCM-Mittel, die meist bitter schmecken.

Die chinesische Arzneitherapie basiert auf jahrtausendelangen Erfahrungsberichten. Man arbeitet nicht mit einzelnen, isolierten Molekülen, "weil wir an das Zusammenspiel von hunderten Wirkstoffen einer Pflanze glauben, die wir je nach Beschwerde kombinieren". Das sei nicht viel anders als ein Kamillentee mit Pfefferminze, den einem die Oma bei Bauchschmerzen gibt, so Hu, nur das in China eben mit anderen Pflanzen therapiert wird.

Andere Denkweise

"Glaube" sei das richtige Wort, sagt Andreas Sönnichsen, Leiter der Allgemeinmedizin an der Med-Uni Wien und Vorsitzender des Netzwerks für Evidenzbasierte Medizin. "Es gibt sehr wenig belastbare wissenschaftliche Evidenz für die Effekte von TCM im Vergleich zu Placebo", sagt er. Sönnichsen lehrt derzeit das Wahlfach "Komplementärmedizin: Esoterik und Evidenz", einen Ersatz für die umstrittene abgesetzte Homöopathievorlesung.

Das Studiendesign für die meisten Untersuchungen zur TCM würde den wissenschaftlichen Qualitätskriterien nicht standhalten. Stichwort "Verzerrung" (Bias) durch Patientenselektion, fehlende Verblindung und zu kleine Patientengruppen. Trotzdem stehe er der Komplementärmedizin durchaus positiv gegenüber: "Manche Patienten wollen ein Rezept, auch wenn sie eigentlich nur ein paar Tage Bettruhe brauchen. Sie bekommen von mir dann lieber etwas Pflanzliches ohne Nebenwirkungen statt eines unnötigen 'echten' Medikaments." Als Arzt müsse er auch die Hoffnung und die Selbstheilungskräfte der Patienten bedienen. Es gebe sehr gute wissenschaftliche Evidenz für die Suggestivwirkung von ärztlicher Behandlung und Placebos.

Evidenz gegen Individualisierung

Westlich-wissenschaftliche Kriterien auf die TCM anzuwenden sei problematisch, entgegnet TCM-Ärztin Verena Baustädter, die auch die Fortbildungseinrichtung Wiener Schule für TCM leitet. "Doppelblindstudien sind nicht das geeignete Forschungsinstrument für eine ganzheitliche Betrachtung, individuelle Diagnostik und Therapie." Dass die Wirkung über den Placeboeffekt hinausgeht, sei in China vielfach bewiesen.

Unter den TCM-Pflanzen finden sich etliche, die in Österreich bekannt sind oder sogar verwendet werden. Zimtrinde zählt zur Kategorie "warmes, oberflächenöffnendes Mittel", Rhabarberwurzel wird als "abwärts ausleitendes Mittel" verwendet, und Süßholzwurzel ist in fast allen Rezepturen als wichtiger "Bote" dabei. Interessant ist die Rolle des Ingwers, der aus Asien stammt. Hierzulande ist er beliebt bei Erkältungskrankheiten, laut TCM wärmt er die Milz, transformiert Schleim, belebt das Yang, angeblich. Denn wissenschaftlich begründet ist das nur unzureichend. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) empfiehlt Ingwer gegen Übelkeit bei Reisebeschwerden, nicht bei Erkältung.

Zwei verschiedene Welten

Sönnichsen glaubt, dass die Chinesen einiges richtig machen. "Es gibt heute in Europa eine unglaubliche Übermedikation. Ein Kräutertee, der den Glauben an die Selbstheilungskräfte fördert, ist mir lieber als ein fälschlich verschriebenes Antibiotikum." Doch mit Yin und Yang lasse man den Boden der Wissenschaft hinter sich.

In China sieht man das anders. Es gibt rund 45 anerkannte TCM-Universitäten mit mehr als einer halben Million Studenten. Eine traditionelle chinesische Behandlung sei in China normal und funktioniere ausgezeichnet, sagt Pharmazeutin Hu. Die unzureichende wissenschaftliche Faktenlage nach westlichen Standards stört sie nicht. "Ich erlebe täglich, wie die Patienten durch Kräuter gesund werden." (Nikolai Atefie, 14.5.2019)