STANDARD: Ein Lehrer bespuckt in einer Wiener HTL einen Schüler, es gibt Handgreiflichkeiten. Einzelfall oder Schulrealität?

Lösel: Neu ist das nicht. In einer aktuellen Studie haben wir 160 Lehrkräfte befragt. Sechs Prozent der Befragten berichten, dass sie in den vergangenen beiden Jahren einmal körperlich angegangen wurden. Das kann ein Treten sein, bei den Jüngeren ein Schubsen. Immerhin 2,3 Prozent berichten von Bedrohung mit einer Waffe oder einem anderen Gegenstand.

STANDARD: Wie häufig ist verbale Gewalt gegen Lehrende?

Lösel: 36 Prozent der Befragten haben Beschimpfungen und Beleidigungen erlebt. Etwa 80 Prozent haben von anderen Lehrkräften Klagen über verbale Aggressionen gehört.

Erziehungscamps mit Drill und Ordnung? Nur in Kombination mit pädagogischen Maßnahmen, sonst sei das sinnlos, erklärt Kriminologe Friedrich Lösel.
Foto: Andy Urban

STANDARD: Welche Faktoren spielen bei Aggression in der Schule eine Rolle?

Lösel: An den Berufs- und Sonderschulen gibt es mehr Aggressionen gegen Lehrkräfte, ebenso an manchen Mittelschulen in sozialen Brennpunkten. Das liegt am Schülerklientel, oft Kinder, die von zu Hause nicht viel mitbekommen. Gymnasien sind weniger betroffen. Einer der wichtigsten Faktoren, der mit solcher Aggression korreliert, ist ein sozial schwieriges Umfeld.

STANDARD: Hängt also alles am "Faktor Eltern"?

Lösel: Nicht alles. Aber es ist eben nicht nur eine Schulfrage. Die Eltern sind Teil des Problems. Lehrer berichten, dass sie bei manchen Vorladungen aufpassen müssen, dass sie der Vater nicht auch noch attackiert.

STANDARD: Schnell heißt es, das seien muslimische Machos.

Lösel: Ich will keine Stereotype bedienen. Wir wissen aus der Präventionsforschung, dass gerade arabisch-, türkischstämmige Familien schlechter ansprechbar sind, weil sie meinen, es sei Aufgabe der Schule, derartige Probleme zu lösen.

STANDARD: Es geht also um eine soziale Frage?

Lösel: Der Migrationshintergrund alleine erklärt nicht viel. Konkret geht es um Kinder weniger gebildeter Eltern, aber auch um bestimmte Migrantengruppen. Es gibt nicht den einen Faktor, der den Ausschlag gibt.

STANDARD: Was also tun?

Lösel: Ein gutes Schulklima ist wichtig, wesentlich wäre eine stärkere soziale Durchmischung an den Standorten. Und: klare Regeln etablieren! Jene Lehrkräfte, die länger an der Schule sind, und jene, die relativ sensitiv, aber auch konsequent vorgehen, haben weniger Probleme. Es kann auch eine Rolle spielen, wie viele Kinder eine Lehrkraft unterrichtet, sprich, wie gut sie die Einzelnen kennt.

STANDARD: Was kann eine Lehrkraft machen, wenn die Situation so eskaliert wie im Anlassfall?

Lösel: Es muss erst genau geklärt werden, was wirklich vorgefallen ist. Aber jemanden anspucken geht nicht. Das ist keine pädagogische Haltung. Wir brauchen die richtigen Persönlichkeiten im Beruf, sorgfältig ausgewählt.

STANDARD: Wer in der Schule mit aggressivem Verhalten auffällt ...

Lösel: ... hat ein höheres Risiko, auf die schiefe Bahn zu geraten. Eine Follow-up-Studie nach zehn Jahren hat gezeigt: Die Hardcore-"Bullys", die bei der ersten Erhebung angegeben hatten, sie nehmen einem Mitschüler Dinge weg, boxen ihn, würdigen ihn herab, machen seine Sachen kaputt – und das mindestens zweimal pro Woche –, waren auch später häufiger delinquent. Bullying, also systematisches Quälen von anderen, ist so eine Art Frühwarnung.

STANDARD: Ab welchem Alter zeigt sich ein Problemverhalten?

Lösel: Das kommt in allen Altersgruppen vor, steigt aber etwas an in Richtung Pubertät. Ein Jugendlicher ist mehr in der Lage zu physischer Aggression.

STANDARD: Prävention muss also im Kindergarten beginnen?

Lösel: Ja, zum Beispiel mit sozialen Trainings für Kinder und Elternprogrammen zur Förderung der Erziehung. Später muss die Schule gemeinsam mit Sozialarbeitern und Psychologen arbeiten, auch mit der Polizei.

Schulquerulanten sollen schneller suspendiert werden können. Der Experte ist skeptisch.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Der Bildungsminister plant sogenannte Time-out-Gruppen. Eine taugliches Mittel?

Lösel: Das birgt die Gefahr, dass die schwierigen Kinder hier womöglich noch das Schlechte voneinander lernen. Auch die übrige Klasse braucht unter Beiziehung von Psychologen eine Nachbearbeitung. Ziel muss sein, dass ein derartiges Verhalten in der Klasse geächtet wird.

STANDARD: Angedacht ist, ein-, zweimal pro Woche begleitet von Schulpsychologen und Sozialarbeitern an Verhaltensänderungen zu arbeiten. Manche sollen auch "Vollzeit" für einige Wochen hin.

Lösel: Ich bin skeptisch. Time-out-Gruppen machen nur Sinn, wenn es eine intensive sonderpädagogische Betreuung gibt. Man muss sorgfältig evaluieren, wie das läuft.

STANDARD: Wer nicht mehr schulpflichtig ist, soll künftig schneller suspendiert werden. Ein "Problem" weniger für die Schule – und für die Gesellschaft?

Lösel: Wenn diese Jugendlichen keine Schulqualifikation haben, werden sie sich rumtreiben und womöglich in ein Milieu geraten, wo das Problem noch größer wird. Da muss man sich fragen, ob das zu rechtfertigen ist.

STANDARD: Die FPÖ stellt sich eigene Erziehungscamps vor.

Lösel: Harter Schliff, frühmorgens aufstehen, kalt duschen? In den USA wurde das längst zurückgefahren, weil sich zeigte, dass dieser quasi militärische Drill ohne pädagogische Maßnahmen nichts bringt. Ordnung und Struktur? Okay. Aber mit pädagogischen Maßnahmen! Dann sprechen wir aber von einer gut geführten Fördereinrichtung.

STANDARD: Noch ein Vorschlag der FPÖ: bei Fehlverhalten die Familienbeihilfe kürzen.

Lösel: Das bewirkt höchstens, dass Kinder aus gewaltbereiten Familien vielleicht noch eine Tracht Prügel bekommen. Eltern sind keine rational kalkulierenden Wesen, die, wenn ihnen das Geld gestrichen wird, reagieren und sich um das Kind kümmern. Dazu sind sie ja oft gar nicht in der Lage.

STANDARD: Was der Bildungsminister noch in seinem Notfallkoffer hat: Teambuilding, Verhaltensvereinbarungen, eine Plattform, an die sich Betroffene wenden können. Hilfreich oder Kosmetik?

Lösel: Das ist eine Selbstverständlichkeit an gut geführten Schulen. Eine goldene Lösung gibt es aber nicht. Deshalb sollte man auch nicht so tun, als ob es die gäbe. Punktueller Aktionismus hilft wenig. (Peter Mayr, Karin Riss, 14.5.2019)