Journalismusprofessor Rosen befasst sich intensiv mit der Einbindung von Lesern und Usern. Er berät auch das mitgliederfinanzierte Medium "De Correspondent".

Foto: DAVID AUSSERHOFER

STANDARD: Österreich ist Ihnen als erstes weiteres Beispiel eingefallen, als Sie beim Journalismusfestival in Perugia über politischen Einfluss auf Medien und das Beispiel Ungarn diskutierten. Warum kommen Sie da gleich auf Österreich?

Rosen: Ich habe gerade etwas über die "Kronen Zeitung" gelesen und ihren neuen Gesellschafter, der die Zeitung offenbar unter Regierungseinfluss bringen soll. Und über die Versuche der Regierung, ihren Einfluss auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu vergrößern. Bei einem Studienaufenthalt in Deutschland im Sommer 2018 hörte ich häufig von Menschen aus der deutschen Medienbranche, dass sie die Entwicklung in Österreich sehr besorgt beobachten. Ungarn hat eine osteuropäische diktatorische Tradition, aber Österreich gilt als westliche Demokratie. Mehr staatliche Kontrolle über Medien erregt Besorgnis.

STANDARD: Österreichs Regierung, vor allem die FPÖ, will die Rundfunkgebühren abschaffen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus dem Staatsbudget finanzieren.

Rosen: Die Rundfunkgebühr wie in Großbritannien und in Deutschland zeigt den Menschen, wofür sie zahlen. Eine Änderung dieses Systems oder eine wesentliche Kürzung der Mittel ist ein tiefer Eingriff der Regierung. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus dem Staatsbudget zu finanzieren ist ein Schritt weiter, Medien einfacher zu kontrollieren. Das ist vermutlich auch die Idee dahinter.

STANDARD: Journalisten und Medienmacher in Österreich diskutierten zuletzt intensiv: Soll man – etwa zu TV-Diskussionen – rechtsextreme Politiker und Aktivisten einladen, die strategisch versuchen, den Diskurs zu zerstören?

Rosen: Das ist eine schwierige Frage. Ich habe darüber bei meinem Studienaufenthalt in Deutschland 2018 mit vielen Journalisten und Talkshowmachern in Deutschland gesprochen, die das sehr beschäftigt. Journalisten sehen es nicht als ihre Aufgabe, Menschen auszuschließen. Ihr Bild ist ein normales politisches System, wo in einer politischen Debatte alle Stimmen vorkommen. Aber man steht vor einer gänzlich anderen Situation, wenn eine politische Partei aus der Zerstörung einer faktenbasierten Debatte Profit schlägt und ihren Erfolg darauf gründet, ob durch Propaganda, ob durch Verzerrung von Fakten, durch Ablehnung etablierter Prozesse.

STANDARD: Wie geht man damit um?

Rosen: Man kann versuchen, diese Menschen über andere als ihre ureigenen Themen zu befragen. Relevante Fragen stellen, auf die eine Regierungspartei Antworten haben muss. Man sollte die AfD fragen, was ihre "Alternativen" für das Pensionssystem, für das Gesundheitssystem sind? Das kann ein kluger Zugang sein, um mit extremem Populismus umzugehen.

STANDARD: Bei den Debatten der Kandidaten zur österreichischen Nationalratswahl 2017 war selbst der Spitzenkandidat der ÖVP bei vielen Themen in zwei Sätzen wieder beim Thema Migration. Heute ist dieser ÖVP-Chef Sebastian Kurz Bundeskanzler.

Rosen: Sagen wir es allgemein: Wenn Sie eine solche Strategie aus Erfahrung kennen und eine solche Person interviewen, dann fürchte ich, desinformieren Sie Ihr Publikum. Wenn man weiß, dass das Ergebnis eines Interviews Falschinformation oder Desinformation ist, dann hat man eine ethische Verantwortung, sich zu fragen, ob man dieses Interview führen soll.

STANDARD: Politische Parteien, und besonders populistische Parteien, versuchen mit einigem Erfolg, traditionelle Medien mit eigenen (sozialen) Medien zu umgehen. Wie geht man damit um?

Rosen: Ich weiß nicht, ob man da als Journalist viel tun kann – außer diese Kommunikation zu beobachten.

STANDARD: Sollen sich Journalisten in diese Kommunikation einbringen, einmischen?

Rosen: Journalisten müssen wissen, was dort gesagt wird. Sollen Journalisten versuchen, die Menschen dort zu erreichen? Kommt darauf an, ob sie eine Chance auf Zugang sehen. Unter überzeugten Fans von Donald Trump befeuert die Präsenz eines Journalisten Hass und Antipathie und stärkt ihre Bindung zu Trump. Das ist eine der Schwierigkeiten für Journalisten in den USA.

STANDARD: Sie haben geschrieben: Wenn man es nicht aushält, ein Hassobjekt von Donald Trump zu sein, ist man falsch im Journalismus.

Rosen: Man wird Sie zum Hassobjekt machen. Wenn Sie das nicht wollen, dann können Sie ihren Job nicht ausüben. Wenn Sie Journalist sein wollen und Ihren Job nicht allein so verstehen, dass Sie aufschreiben und drucken, was jemand sagt.

STANDARD: Sollen sich Journalisten mit jeder Äußerung Donald Trumps oder anderer Populisten etwa auf Twitter oder Facebook beschäftigen und sie auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen? Einigen dieser Politiker scheint das ja ziemlich egal zu sein. Und von der Beschäftigung profitieren sie.

Rosen: Sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass Factchecks von Falschinformationen diese Falschinformationen vor allem noch weiter verbreiten.

STANDARD: Man kann die Falschinformation aber schlecht einfach unwidersprochen stehenlassen.

Rosen: Man kann das natürlich behandeln. Trump sagt etwa, dass die USA 91 Milliarden Dollar für Hurrikanschäden nach Puerto Rico geschickt haben und dass das die größte Hilfeleistung aller Zeiten war. Es waren aber eher elf Milliarden, und das ist weit entfernt von der höchsten Hurrikanhilfe. Journalisten wurden Journalisten, um so falsche Aussagen nicht stehenzulassen. Das ganze System des Factcheckings, des Journalismus, der Politik basiert darauf, dass Politiker nicht als Lügner dastehen wollen und sie ihre Aussagen richtigstellen und künftig anders mit den Fakten umgehen. Aber Trump verhält sich nicht wie ein normaler Politiker. Das fordert den amerikanischen Journalismus fundamental, und ich glaube nicht, dass das den Journalisten in seiner ganzen Tragweite bewusst ist. Der Chefredakteur der "Washington Post", Marty Baron, sagte zu Trump: Wir sind nicht im Krieg, wir arbeiten. Damit meint er: Wir behandeln das als Normalzustand. Ich verstehe das. Aber ich glaube nicht, dass das reicht.

STANDARD: Trumps Beispiel macht in aller Welt Schule – von den Philippinen über Europa bis ...

Rosen: Natürlich, und darum bemüht er sich ja auch. Trump hat mit einer sehr wichtigen Tradition der US-Präsidenten gebrochen. Wenn Präsidenten ins Ausland reisten, begleitete sie stets ein Tross von Journalisten. Und fast immer gab es eine gemeinsame Pressekonferenz mit dem Staats- oder Regierugschef, den er traf. Diese gemeinsame Pressekonferenz war in repressiven Regimes wie den Philippinen oder China die einzige Möglichkeit für die Journalisten dort, ihren höchsten Politikern Fragen zu stellen. Das war ein äußerst wichtiges Ritual und Teil der "sanften Gewalt" der USA, Demokratie zu fördern. Oder zumindest autoritären Führern zu zeigen, wie Demokratie funktioniert. Aber als Trump zum ersten Staatsbesuch nach China kam, gab es keine gemeinsame Pressekonferenz. Das Außenministerium hatte nicht darauf gedrängt. Und es war den Chinesen so ebenso lieber wie Trump. Und Trump geht noch weiter und tut, was nach meinem Wissen kein amerikanischer Präsident vor ihm getan hat: Er fährt ins Ausland und beschwert sich dort über die Medien in den USA und wie unfair sie ihn behandeln.

STANDARD: Und er zeigt den Machthabern dort, dass das total normal und okay ist ...

Rosen: ... Fragen auszuweichen, Journalisten zu beleidigen, sie zu attackieren. Der Präsident der wichtigsten Demokratie der Welt tut das ja auch.

STANDARD: Medien reagieren auf die Spaltung der Gesellschaft zwischen einer populistischen Sicht auf die Welt und einer, sagen wir, realistischeren Sicht damit, mehrere Sichtweisen darzustellen. Ob es nun um das Gesundheitssystem geht, um den ORF ...

Rosen: Wenn es auf beiden Seiten faktenbasierte Argumente gibt, dann hat das seine Berechtigung. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten für die Organisation eines öffentlichen Rundfunks. Aber wenn die Regierung versucht, diesen Rundfunk unter ihre Kontrolle zu bringen, dann müssen Journalisten auch sagen, worum es da geht. Journalisten müssen sich für einen Diskurs einsetzen, der auf Fakten fußt, also für eine Öffentlichkeit, in der Demokratie noch funktionieren kann. Wenn das System an sich infrage gestellt wird, dann müssen Journalisten auch dagegen aufstehen.

STANDARD: Dann werden Journalisten aber rasch von Rechtspopulisten als Oppositionspartei denunziert.

Rosen: Das ist ein Risiko. Aber das müssen Journalisten klarstellen: Wir konfrontieren euch mit Fakten, aber wir sind keine politische Partei.

STANDARD: Sollten Medien ihrem Publikum mehr erklären, was sie tun, ihre redaktionellen Entscheidungen transparent machen?

Rosen: Ich halte das für wesentlich. Da geht es nicht darum, sich selbst zur Story zu machen. Aber es ist wichtig zu erklären, wie Medien und Journalisten arbeiten, erklären, wie wir entscheiden, Bürgerinnen und Bürger mehr in unsere redaktionellen Prozesse einzubinden. Das bringt auch vielfältigere Blickwinkel und Zugänge in die Berichterstattung.

STANDARD: Rechtspopulisten bezeichnen Medien nicht nur mit dem NS-belasteten Begriff Lügenpresse, sondern auch als Lückenpresse – Medien würden bestimmte Umstände gezielt verschweigen. Sollen Medien ihrem Publikum auch erklären: Wir berichten darüber nicht, weil ...?

Rosen: Das könnte interessant sein. Ich habe das noch bei keiner Zeitung beobachtet.

STANDARD: "Die Zeit" hat etwa einen Redaktionsblog, in dem sie auch solche Überlegungen thematisiert.

Rosen: Es ist jedenfalls eine gute Idee, die Gewichtung von Nachrichten und Informationen offenzulegen. Ich verlange von den US-Medien eine Rubrik auf ihrer Website, die ihre aktuellen Topprioritäten in der Berichterstattung live erklärt. Das zwingt Redaktionen auch zur Selbstreflexion – warum berichten wir das jetzt in dieser Größe?

STANDARD: Vielleicht glauben Journalisten ja auch zu sehr daran, dass ihre Prioritäten ohnehin klar und nachvollziehbar sind.

Rosen: Ich bin sicher, wenn man sie danach fragt, würden sie sagen: Das ist doch klar, lies die Zeitung. Aber ich bin ziemlich sicher, dass das den Leserinnen und Lesern beileibe nicht so klar ist.

STANDARD: Wo wir schon beim Publikum sind ...

Rosen: The people formerly known as the audience.

STANDARD: Ein wesentlicher Teil dieses Publikums – oder wie Sie schon 2006 geschrieben haben: Was man früher Publikum genannt hat – scheint sich nicht sonderlich dafür zu interessieren, was wahr und was falsch ist. Es scheint diesen Menschen wichtiger zu sein, ob Inhalte in ihr Weltbild passen, welches auch immer das sein mag. Wie sollen Journalisten, wie sollen Medien damit umgehen?

Rosen: Wir sollen dieses Thema nicht mit der Annahme angehen, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt. Vielleicht gibt es einfach keine. Sich das einzugestehen ist nicht leicht. Aber wesentliche Teile der Bevölkerung wollen nichts davon wissen, dass ihre Überzeugungen nicht real begründet sind. Fakten perlen da einfach ab. Diese Menschen sind immun gegen Journalismus. Sie haben das System Journalismus verlassen.

STANDARD: Und damit einen Teil des demokratischen Systems.

Rosen: Natürlich. Das System News zu verlassen ist ein gravierendes Problem für die Demokratie. Und es passiert in den USA ebenso wie in Europa. Wenn Journalisten der "Washington Post" oder von NPR in der Früh zur Arbeit gehen, ist ein Drittel ihres Publikums schon unerreichbar weg, bevor sich die Redakteure überhaupt in ihrem Redaktionscomputer eingeloggt haben. Das ist ein fundamentales Problem. Wir können uns fragen: Wie reparieren wir das? Aber im Moment müssen wir akzeptieren: Das kann man aus heutiger Sicht nicht reparieren.

STANDARD: Aber sollen wir es nicht versuchen, diese Menschen anzusprechen? Sollen wir sie rechts oder links liegenlassen und ignorieren? Auch keine sinnvolle Lösung.

Rosen: Nein, wir müssen es natürlich weiter versuchen, sie zu erreichen. Aber ich bin nicht sehr zuversichtlich, dass das gelingt.

STANDARD: Was bedeutet das für Wahlen, für die Wählerinnen und Wähler, für die Gesellschaft, wenn einem Drittel der Menschen die Realität mehr oder minder egal ist?

Rosen: Das bedeutet, dass unsere Politik mehr und mehr auf Illusionen, Fantasie, Ideologie und Zaubertricks basiert.

STANDARD: Es gab schon einmal im 20. Jahrhundert eine Zeit, in der Millionen Deutsche, Österreicher und andere den Vorstellungen eines Österreichers geglaubt haben.

Rosen: Ich denke heute sehr oft an diesen Teil der Geschichte, viel mehr als früher, selbst als amerikanischer Jude, dem das immer präsent ist. Deutschland war ein gebildetes, modernes Land. Ich konnte nicht nachvollziehen, wie das passieren konnte. Nach drei Jahren Trump fällt mir das Verstehen viel einfacher. (Harald Fidler, 15.5.2019)