Die Geschichte der Aufklärung lässt sich nicht leicht auf andere Religionen übertragen.

Foto: Regine Hendrich

Religionskritik als Rassismus? Dieser Frage widmeten sich Universitätsprofessor Nikolaus Dimmel und Fachhochschulprofessor Roland Fürst im Gastkommentar. Sozialethikerin Ingeborg Gabriel warnt in ihrer Replik davor, in säkularistischem Zorn religiöse Menschen zu diskreditieren. Religionen seien zudem "weder monolithisch noch homogen". Eine andere Perspektive nimmt Rumeysa Dür-Kwieder ein, sie widerspricht Dimmel und Fürst aus Perspektive der Dokumentations- und Beratungsstelle Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus.

Sich auf das glatte Parkett des Religionsdiskurses zu wagen, braucht einiges an Mut in diesen Tagen sowie entsprechende Kenntnisse. Ich stimme dem Grundanliegen des Kommentars der anderen von Nikolaus Dimmel und Roland Fürst (siehe "Religionskritik als Rassismus?") vollinhaltlich zu. Religion ist nicht gleich Rasse. Erstere basiert auf einer Entscheidung, Letztere nicht. Erstere ist biologisch, Letzterer liegen geistige Traditionen zugrunde. Beide Begriffe werden in der Präambel zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte getrennt verwendet. Es kann Mehrfachdiskriminierungen geben, aber eine Vermengung beider ist nicht zulässig, und sie dient vielfach als Immunisierungsstrategie gegen jegliche Kritik an sich als islamisch verstehenden Praktiken. Doch der Gastkommentar enthält auch eine Reihe von Aussagen, denen zu widersprechen ist.

Religiöses Zeitalter

Die Autoren kritisieren die Unklarheit in der Erstellung von Statistiken. Zugleich sprechen sie von 900 Millionen Menschen, die durch Religionen umgebracht wurden, als ob es sich um eine allgemein bekannte Tatsache handeln würde, die keinerlei weiterer Erklärung bedarf. Woher kommt diese Zahl? Um welche Religionen handelt es sich: Buddhismus, Hinduismus, Islam, Christentum? Innerhalb welcher Zeitspanne wurden diese Morde begangen, seit Beginn der Menschheitsgeschichte? Der wissenschaftliche Anspruch erscheint hier nicht gewahrt. Oder sollen auch die millionenfachen Morde des Nationalsozialismus und Stalinismus dazugezählt werden, da es sich um sogenannte "politische Religionen" handelt.

So schreibt der von mir höchst geschätzte Historiker Eric Hobsbawm in seinem Bestseller "Das Zeitalter der Extreme", dass man von einem religiösen Zeitalter nichts anderes erwarten kann, und schiebt damit auch die Untaten säkularer Ideologien den Religionen in die Schuhe. Diese Vermengung von Begriffen ist abzulehnen: Atheisten verstehen sich per definitionem als nichtreligiös und sollten daher nicht von anderen als religiös bezeichnet werden. Den Glauben anderer sollte man nicht ideologisch aufladen, sondern ihn erst einmal zu verstehen suchen.

Säkularistischer Zorn

Deshalb ist auch eine generelle Ablehnung von Religionen, wie sie die Autoren meinen vertreten zu müssen, bedenklich. Denn mit derartigem säkularistischen Zorn diskreditieren sie einen Großteil der Menschheit (etwa sechs Milliarden, genaue Zahlen gibt es nicht). Hier kann man fragen: Ist dies intendiert? Und: Ist es erfolgversprechend? Denn die einem derartigen Denken vielfach zugrunde liegende Säkularisierungsthese, die besagt, dass Modernisierung Atheismus hervorbringt, ist inzwischen weitgehend aufgegeben.

Seit den 1980er-Jahren zeigt sich vielmehr, dass Religionen auch als politische Akteure – außer in Europa – auf die Weltbühne zurückgekehrt sind und die Geschichte eben keine Geschichte fortschreitender Säkularisierungen ist. Man mag dies bedauern, ja gefährlich finden. Doch die Hoffnung, dass der Atheismus allein als Sieger übrig bleibt, scheint heute schwer aufrechtzuerhalten.

Religion und Aufklärung

Dies sollte zu einer differenzierteren Sichtweise führen, wobei erst einmal zu sehen ist, dass der Begriff der Religion selbst ein Konstrukt der Aufklärungsphilosophie darstellt. Religion im Singular gibt es nicht. Sie bezeichnete für die Aufklärer vor allem das katholische Christentum und die Kirche, der Voltaire sein "Écrasez l'infâme!" ("Zermalmt das Niederträchtige!") entgegenschleuderte, das bis heute nachhallt. Diese Geschichte lässt sich nicht leicht auf andere Religionen übertragen. Es ist verständlich, dass das nerven kann. Doch alle Religionen brachial religionskritisch zusammenzuwürfeln ist nicht viel besser als die Vermengung von Rassismus und Islam.

Christen sind offenbar keine Muslime und umgekehrt, Buddhisten keine Hindus. Religionen sind zudem weder monolithisch noch homogen. Es gibt in ihnen Weise und Narren, Verbrecher und Heilige, Mittelmäßige und Außergewöhnliche. Es gilt daher, sich mit ihren unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen auseinanderzusetzen, die sie – wie auch Dimmel und Fürst – erheben. Diese werden erst dann ideologisch, wenn sie sich absolut setzen, weil es Absolutes innerirdisch nicht geben kann.

Genauer hinsehen

Alle Religionen gegen ihren Willen und ihr Selbstverständnis in einen Topf zu werfen wird zudem in der globalisierten Welt kaum zur Problemlösung beitragen. Man muss sich daher die Mühe machen, genauer hinzusehen. Sich dieser Komplexität ehrlich zu stellen ohne ideologische Parolen ist heute ein Gebot der Stunde. Man ist dabei an den Spruch Bruno Kreiskys erinnert: Lernen Sie Geschichte! Das gilt heute auch für Religionswissenschaft und vielleicht Theologie! (Ingeborg Gabriel, 15.5.2019)