Salvini-Fans sehen vieles anders als Experten. Ob sie sich langfristig bedanken können, ist noch offen.

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Ich finde es unerhört, dass unser Innenminister und Vizepremier erklärt, man werde sich bis zu 140 Prozent des BIP verschulden", erklärte Paolo Gentiloni in einem Interview mit dem Corriere della Sera. Der Lega-Chef tue so, als spielten bei einer ohnehin schon viel zu hohen Verschuldung 200 Milliarden Euro mehr oder weniger keine Rolle. Alarmiert haben Gentiloni die Äußerungen von Lega-Chef Salvini, der gleich bei mehreren Gelegenheiten erklärt hatte, dass Italien nicht nur das Recht, sondern die Pflicht habe, die EU-Haushaltvorgaben zu verletzen, um mit neuen Ausgaben die Wirtschaft anzukurbeln.

Risikozuschläge steigen

In den Augen Gentilonis handelt die populistische Regierung mit solchen Ankündigungen verantwortungslos: "Wir sind noch nie so isoliert gewesen in Brüssel – und der Schritt von der Isolation zum völligen Abseitsstehen kann kurz sein", betonte der Ex-Premier. Der 64-Jährige spielt dabei auf die Möglichkeit an, sozusagen "aus Versehen" aus dem Euro auszutreten: "Man kann entscheiden, den Euro zu verlassen. Man kann aber auch draußen landen, ohne das beabsichtigt zu haben." Zum Beispiel dann, wenn die Finanzmärkte das Vertrauen in die Haushaltpolitik verlieren und beginnen, massenhaft italienische Staatsanleihen abzustoßen. Salvinis Aussagen hatten auch umgehend zu einem Anstieg der Risikozuschläge für italienische Anleihen geführt.

Italien hatte eine solche Vertrauenskrise unter Silvio Berlusconi schon einmal erlebt: 2011 stiegen die Zinsen für die italienischen Schuldpapiere sprunghaft; es drohte ein Staatsbankrott und damit der Austritt aus dem Euro. Die Pleite konnte mit dem Rücktritt des Skandalpremiers abgewendet werden. Doch nun droht sich das Szenario zu wiederholen: Italiens Verschuldung steigt unter der Regierung aus Lega und Fünf-Sterne-Protestbewegung wieder rasant an. Trotzdem verspricht Salvini die Einführung einer Pauschalsteuer von 15 Prozent. Auf Pump, versteht sich.

Euro-Referendum

Gentiloni erinnert daran, dass die beiden Vizepremiers und starken Männer der Regierung, Lega-Chef Salvini und der Politikchef der Fünf Sterne, Luigi Di Maio, vor den Parlamentswahlen 2018 mit einem Austritt aus dem Euro (Salvini) und mit dem Versprechen eines Euro-Referendums Wahlkampf betrieben hätten. Davon sind sie zwar abgerückt – aber im Parlament besetzen immer noch zwei führende Anti-Euro-Ideologen Schlüsselpositionen: Die Ökonomen Claudio Borghi und Alberto Bagnai sind die Präsidenten der Finanzkommissionen im Senat und in der Abgeordnetenkammer. Die beiden Lega-Mitglieder haben in der Finanzpolitik großen Einfluss auf Salvini.

Der Euro und die Schulden

In den Augen Borghis und Bagnais ist der Euro hauptverantwortlich für die finanzielle Situation Italiens. Diese ist in der Tat besorgniserregend: Mit knapp 2400 Milliarden Euro ächzt das Land unter dem dritthöchsten Schuldenberg der Welt (nach den USA und Japan). Haushaltsexperten weisen darauf hin, dass die Regierung nach den Europawahlen einschneidende Korrekturmaßnahmen verfügen müsste, damit Italiens Finanzen im laufenden und im kommenden Jahr den EU-Vorgaben entsprächen. Im Moment ist es wenig wahrscheinlich, dass sich die Regierung, die den Bürgern die Befreiung aus der Knechtschaft Brüssels versprochen hatte, zu einem unumgänglichen Blut-und-Tränen-Korrekturpaket aufraffen wird.

Eine Weigerung Italiens im kommenden Herbst, sich bei der Ausarbeitung des Haushalts 2020 an das "Diktat der Euro-Bürokraten" zu halten, könnte dazu führen, dass die heutige Nervosität der Anleger in Panik umschlagen wird – und sich die Situation von 2011 wiederholen könnte. Er spiele nicht gerne die Kassandra, versicherte Gentiloni gegenüber dem Corriere della Sera – "aber bereits gegen Ende dieses Jahres könnte Italien am Scheideweg stehen." (Dominik Straub, 17.5.2019)