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Jede Woche Kaviar?

Foto: Getty

Jean-Marc Bosman, sagt Jean-Marc Bosman, hätte sich eigentlich Besseres verdient. Und wenn schon nichts Besseres, so doch wenigstens mehr. Mehr Anerkennung zum Beispiel. Nicht nur monetäre, die aber natürlich auch. "Alle profitieren von mir", hat er vor Jahren schon dem Spiegel geklagt, "nur ich, ich habe nichts davon. Als hätte ich jemandem die richtigen Lottozahlen verraten, aber dann werde ich nicht am Gewinn beteiligt."

Das Bild aus der Vorstellungswelt des Trafikanten ist anschaulich. Aber etwas unpräzise. Denn was Jean-Marc Bosman, ein begabter belgischer Fußballspieler, dem europäischen Bewerbsfußball hinterlassen hat als Geschenk – kann sein, als Danaergeschenk –, waren nicht bloß einmal die Lottozahlen. Es war ein Geldscheißer.

Dankend oder nicht dankend

Die Geschichte ist oft schon erzählt worden. Bosman, ein Mittelfeldspieler – er sagt von sich, "eine richtige Nummer zehn" –, will 1990 von seinem Verein, dem RFC Lüttich, zum französischen Zweitligisten Dünkirchen wechseln. Sein Vertrag mit den Königlichen ist ausgelaufen. Lüttich verlangt gleichwohl umgerechnet 600.000 Euro Ablöse. Dankend – oder nicht dankend – lehnen die Dünkirchner ab.

Bosman klagte den belgischen Verband und gegen dessen Transferregeln. Es ging um Verdienstentgang, um Entschädigung. Von Anfang an aber war klar, dass es auch ums Ganze ging. Es war eine Musterklage: der überkommene Fußballsport vs. EU; beziehungsweise EWG, wie das damals noch geheißen hat.

System

Bis zum Europäischen Gerichtshof wurde über die Frage gestritten, ob das bezahlte Fußballspielen eine unselbstständige Arbeit im Sinne des Artikels 48 EWG-Vertrages aus 1957 sei, der die Freizügigkeit für Arbeitnehmer regelt. Der europäische Fußballverband, die Uefa, sah die Architektur des kontinentalen Spielbetriebs – das fein ziselierte Transfersystem mit seinen Legionärsregulativen – gefährdet und hat entsprechend versucht, das Verfahren in seinem Sinne zu beeinflussen. Auch durch so altvaterische Mittel wie die Handsalbe im Fall des Klagsrückziehers.

Am 15. Dezember 1995 entschied der EuGH, dass das professionelle Fußballspielen keine bloße Betätigung sei. Sondern eine Tätigkeit, unterworfen dem Artikel 48. Bosman wurde mit 780.000 Euro entschädigt, mit denen er verfuhr wie einst der nordirische Starkicker George Best mit seinen Pfunden: auf großem Fuß mit leichter Hand.

Bejubelt und bejammert

Für gewöhnlich wird dieses Urteil so interpretiert – bejubelt oder bejammert -, dass dadurch die Spieler befreit wurden aus der Knechtschaft gewissermaßen sklavenhaltender Vereinsbosse. Nun konnten sie über sich selbst verfügen. An den jeweiligen Verein bindet sie nur ein zeitlich begrenzter Arbeitsvertrag, nach dessen Ablauf sie ziehen können, wohin es – zumeist das Geld – sie zieht.

Die Vereine, die bis dahin mit Ablösen – Spielerverkäufen – gute Einnahmen lukrieren konnten, schauten durch die Finger. "Es war schön für die Spieler und schlecht für die Klubs." Das sagt Karl-Heinz Rummenigge. Ausgerechnet.

Rummenigge ist Vorstandsvorsitzender der FC Bayern AG. Und was der FC Bayern heute ist, verdankt er auch dem armen Jean-Marc Bosman. Der erstritt ja nicht nur das Menschenrecht, sein eigener Leibeigner und also -eigener zu sein. Sondern auch das europäische Recht, seine Haut überall dort unbeschränkt zu Markte zu tragen, wo der Artikel 48 Geltung besitzt. 2001 einigten sich die EU und der Fußballweltverband Fifa sogar auf weltweit gültige Transferregeln nach dem Muster Bosman.

Buchhalterisches Allotria

Spätestens damit hat dann die schöne, neue Fußballwelt begonnen. Was nämlich auf der einen, der Bosman'schen Seite, die Befreiung des Fußballmenschen aus der vereinsverschuldeten Unmündigkeit gewesen ist, war auf der anderen Seite des Goldstückes die Freiheit der Vereine, die besten und allerbesten der Befreiten zusammenzukaufen, wo immer sie sich kaufen ließen.

Die Klubs schlossen nun länger- und langfristige Verträge, um jetzt erst recht ihr buchhalterisches Allotria zu treiben mit absurden Ablösesummen, die als Werthaltigkeiten auch den Weg in die Bilanzenfrisur finden können. Der eben befreite Kicker verwandelte sich solcherart flugs erst recht in Kapital. Der Fußballspieler – um 222 Millionen Euro kaufte Paris St. Germain 2017 den Brasilianer Neymar aus seinem Vertrag mit dem FC Barcelona – ist selbst zum Geldscheißer geworden.

Mit den Adlern fliegen

Jene, die das Gold haben, schreiben die Regeln. So erklärte es in seiner entwaffnenden Offenheit Frank Stronach, der zwischen 2001 und 2007 versucht hat, die Wiener Austria in die Champions League zu führen, weil er "nicht wie ein Huhn am Boden picken" wollte. Sondern mit den Adlern fliegen. Die allerdings waren da längst schon wieder ganz woanders: jenseits.

Das Bosman-Urteil beschleunigte einen Umbauprozess im europäischen Fußball, der schon in den 1980ern begonnen hat, zeitgleich mit der politischen Wende auf dem Kontinent. Der Treibriemen war das private Fernsehen, das in Deutschland 1984 startete. In Italien hatte Silvio Berlusconi – der damals politisch noch nicht ambitionierte TV-Tycoon – eine richtungsweisende Idee: Fußball, die geilste Sache der Welt. Noch weit vor Sachen wie Tutti Frutti. So hieß eine Sendung des jungen RTL nach italienischem Vorbild.

Berlusconis Vorstellung

Berlusconi gehörte neben den größten Privatsendern Italiens auch die AC Milan. Und ihm war klar, dass attraktive, regelmäßige und also berechenbare Sendungsinhalte nur durch einen sehr attraktiven, den dramaturgischen Regeln des Fernsehens folgenden Bewerb zu gestalten waren. Ihm schwebte eine europäische Liga vor, in der die Großen der Großen sich den jeweils Größten untereinander ausmachen. Zur Not ohne die Uefa. Berlusconi fand offene Ohren in München, Madrid und anderswo.

Man traf sich geheim. Aber man sorgte dafür, dass die Uefa von diesen Konkurrenzüberlegungen Wind bekam. Die reagierte auch brav. In der Saison 1992/93 startete der Cup der Meister – in den seit 1955/56 jede Pimperlliga des Kontinents ihren jeweils Besten entsandte – als Champions League.

Nach amerikanischem Muster dichtete die sich sukzessive ab nach unten. Die vier großen europäischen Ligen – Spanien, England, Italien, Deutschland – sind mittlerweile längst schon unter sich. Hin und wieder gastiert wer; PSG, Ajax jetzt erstmals wieder nach langer Zeit. Der letzte Champions-League-Sieger von außerhalb war 2004 der FC Porto unter José Mourinho.

Aktuell wird wieder gedroht. Bayern, Juve, Barça, Real, ManUnited, Milan et al. haben einander schon wieder getroffen. Wieder ließen sie sich leaken, um dann mit dem Dementi die Drohung der Verselbstständigung noch zu verstärken. Wieder reagiert die Uefa, wie verzweifelt schon. Die Uefa-Champions-League trägt immer unverhohlener das Gesicht der als Rute ins Fenster gestellten Super League. Die könnte – sollte die Uefa nicht spuren – schon 2020/21 starten und damit nicht nur die Uefa-Bewerbe schwerst beschädigen, sondern erst recht die nationalen Ligen.

Fernsehgeld

Die 36 Vereine der ersten und zweiten deutschen Liga kassieren im Jahr 1,16 Milliarden Euro. Fernsehgeld. 2021/22 beginnt die neue, gerade verhandelte vierjährige TV-Rechteperiode. Für die meisten Klubs ist das die Haupteinnahmequelle. Bayern München aber kam zuletzt auf einen Jahresumsatz von 630 Millionen Euro. Im aktuellen diesbezüglichen Ranking von Deloitte ist das Platz vier. Die Top 20 – die möglichen Superligisten also – setzen im Jahr acht Milliarden Euro um.

Real Madrid, nun wieder mit Trainer Zinédine Zidane, hat vor, um eine halbe Milliarde einkaufen zu gehen. Für Paul Pogba verlangt Manchester United 150 Millionen. Real bietet vorderhand 110. Und so beginnt das Schachern.

"Man kann heutzutage einen Hund, ein Schwein, eine Kuh oder gar ein Lama kaufen – das ist okay. Aber in der heutigen Zeit sollte man meiner Meinung nach nicht mehr Menschen verkaufen können", sagt Jean-Marc Bosman. "Bosman who?", wird Eden Hazard wohl fragen, für den Chelsea 112 Millionen haben will von Madrid.

Tischlein, deck dich

David Goldblatt, ein formidabler britischer Fußballhistoriker, hat den postbosman'schen Fußball in seinem Buch The Ball is Round so beschrieben: "Der marode fordistische Fußball wurde in einen boomenden postindustriellen Servicesektor verwandelt, überflutet mit Geld und Überheblichkeit."

All jene, die keuchen, fluchen oder aufdringlich nach Schweiß stinken, sollen im Keller spielen. Ein paar Brosamen werden schon abfallen vom Tischleindeckdich, wo Woche für Woche à la carte gespeist wird.

Georg Pangl, der österreichische Generalsekretär des europäischen Ligenverbandes, hat den Mahnfinger erhoben: "Die Frage ist, ob es für einen Fan Sinn macht, jede Woche Kaviar zu haben. Man braucht das tägliche Brot." Anders: Den Gourmet trennt vom Gourmand die Länge jenes Halses, den dieser nicht und nicht vollkriegt.

Der Eselstreckdich – spätestens seit 2008 wissen das nicht nur die Kinder – trägt zwar das Tischleindeckdich. Aber auch – und manches Mal vor allem – den Knüppelausdemsack. (Wolfgang Weisgram, 20.5.2019)