"Der Kampf gegen die Klimakrise scheitert nicht am Mangel an Informationen", sagt Ökonomin und Universitätsprofessorin Sigrid Stagl. "Er scheitert an Interessen."

Foto: Heribert Corn

Die Wirtschaftswissenschafterin Sigrid Stagl leitet das Institut für Ökologische Ökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie sagt: Statt angesichts der drohenden Klimakatastrophe den Kopf in den Sand zu stecken, gelte es jetzt, beherzt zu handeln, bevor es zu spät ist. Wir alle könnten etwas tun. Auch die Rezepte für die Wirtschaft gebe es längst – die Politik müsse nur endlich den Rahmen für ihre Umsetzung schaffen. Die Frage laute nun: Was braucht das neue System?

STANDARD: Seit Jahrzehnten zeigen Studien, dass wir ökologisch gegen die Wand fahren, wenn wir weitermachen wie bisher. Und obwohl an zentralen Stellen des Weltgeschehens heute Klimakrisenleugner sitzen, hat man doch den Eindruck, dass in Teilen der Bevölkerung und der Wirtschaft gerade radikal umgedacht wird. Stimmt das?

Stagl: Bezüglich Klimawissenschaft und ökonomischer Wissenschaft ist seit Jahrzehnten klar, was zu tun ist. Auf politischer Ebene bewegt sich seit längerem leider wesentlich weniger als in anderen Teilen der Gesellschaft. Idealerweise würden politische Entscheidungsträger gut informiert die Problemlagen verantwortungsvoll und mit gebotener Dringlichkeit angehen. Die Politik reagiert aber schon länger eher auf das Drängen verschiedener Gesellschaftsgruppen, hinkt quasi hinterher.

Ich sehe zwei Bereiche, in denen sich derzeit wirklich etwas verändert: Bei den jungen Menschen, die gegen die Klimakrise kämpfen, protestieren und streiken, und bei einem Teil der Unternehmerschaft. Beide agieren mit Unterstützung der Wissenschaft – wobei die fast schon ein Hygienefaktor ist. Es gibt immer mehr verantwortlich handelnde Unternehmen, die sehen, was ökologisch notwendig ist, und die etwas tun wollen. Sie brauchen von der Politik endlich garantierte Planungssicherheit für verantwortungsvolles Handeln. Es gibt Unternehmen, die vom aktuellen System benachteiligt werden, weil sie nachhaltig wirtschaften wollen.

STANDARD: Gelingt den protestierenden Jugendlichen etwas, das die Klimawissenschaft bis jetzt nicht geschafft hat – nämlich die emotionale Aufladung des Themas Klimakrise?

Stagl: Diese Jugendlichen agieren mit einer Legitimität, die sich aus ihrem Sein speist – und nicht aus dem, was sie getan haben. Sie fordern nicht mehr und nicht weniger als eine lebenswerte Zukunft und legen ihre Interessen auf den Tisch. Das hat Power, das ist mächtig. Man muss ihnen zuhören. Die Proteste der Jugendlichen haben das Potenzial, das Ungleichgewicht von Macht, das jahrzehntelang zwischen den aktuellen wirtschaftlichen Interessen und den Menschen existiert hat, etwas aufzuheben. Diesen Interessenausgleich schafft die Wissenschaft nicht – weil es ja schon länger kein Informationsdefizit war, woran der Kampf gegen die Klimakrise bisher gescheitert ist. Gegen Interessenungleichheit helfen keine Informationen.

STANDARD: Ist es diese moralische Klarheit, die die Jugendlichen bei ihren Forderungen nach einer lebenswerten Zukunft an den Tag legen, die ihre Proteste so kraftvoll macht? Dass sie noch nicht in Systemlogiken und vermeintlichen Sachzwängen denken?

Stagl: Absolut – es ist fast, als würde man eine andere Aggregationsebene erreichen. Genau das haben wir Wissenschafter immer versucht – systematisch, mit Studien, Worten, mathematischen und grafischen Modellen. Aber es reicht scheinbar nicht, das rein kognitiv zu machen. Es braucht Interessen, die auf dem Tisch liegen, die man nicht auf die Seite schieben kann und wo man einfach sagt: Es ist ja bis jetzt auch so gegangen.

Die Proteste der Jugendlichen sind ein emotionaler Katalysator für die Wissenschaft. Denn an Argumenten mangelt es uns wie gesagt nicht – wir haben verdammt gute Argumente dafür, warum wir umdenken müssen. Aber die kommen nicht an. Wir haben immer überlegt, wie wir besser kommunizieren können. Denn wir können nur Informationen liefern – und nicht für Interessen eintreten. Aber die Jugendlichen können das. Das ist ein Game-Changer.

STANDARD: Welche konkreten Schritte bräuchte es nun in dieser Phase der Disruption, um die grüne Wende zu schaffen? Von uns allen und von der Wirtschaft?

Stagl: Da gibt es sehr viel zu tun. Fangen wir an bei einer vernünftigen Ökosteuer, einer Kohlenstoffsteuer. Schweden hebt 139 Dollar pro Tonne CO2-Äquivalent ein, der europäische Emissionshandel entspricht gerade einmal 20 Dollar. Da gibt es reichlich Luft nach oben. Die Begründung, warum diese Maßnahme sinnvoll ist, lernen Sie übrigens in der zweiten Stunde Einführung in die Volkswirtschaftslehre: Wer Kosten innerhalb der Gesellschaft verursacht, in diesem Fall Umwelt- und Gesundheitskosten für uns alle, soll diese Kosten übernehmen und einen adäquaten Preis dafür zahlen. Wenn die Marktpreise für klimaschädigende Produkte oder Leistungen das nicht reflektieren, müssen diese Preise durch Regulierung korrigiert werden. Punkt. Das ist simple Standardökonomie – da reden wir noch gar nicht über unterschiedliche Paradigmen. Wenn die Politik sagt, man müsse jetzt aber schon ein wenig geduldig sein, dann hat sie nicht begriffen, dass keine Zeit für Geduld bleibt. Das ist wissenschaftlich belegt: Es ist bedeutend, was wir in den nächsten paar Jahren machen.

STANDARD: Laut Berechnungen der Vereinten Nationen haben wir noch zwölf Jahre, um das Schlimmste zu verhindern.

Stagl: Das ist verdammt knapp. Wir reden ja von Energiesystemen, die komplett verändert werden müssen. Für Energiesysteme sind zwölf Jahre die kurze Frist. Denn wenn man da etwas verändern will, muss man heute etwas abschalten, das eigentlich noch laufen könnte. Und das ist teuer. Jetzt etwas auf die lange Bank zu schieben ist der absolut falsche Schritt.

STANDARD: Was braucht es neben Maßnahmen wie Ökosteuern und dem Einpreisen von Umweltschäden aus Ihrer Sicht jetzt noch?

Stagl: Wir müssen jetzt Technologien und Innovationen ausrollen, die es schon gibt. Ein ganz kleines Beispiel ist Photovoltaik – auch die ist ein Game-Changer, das hat Potenzial. Die Förderungen dafür sind aber meist innerhalb von Wochen und Monaten ausgeschöpft. Viel mehr Menschen hätten daran Interesse. Das muss man unterstützen. Man muss über dezentrale Energiesysteme und Grids nachdenken und sich fragen: Was braucht es dazu, dass die jetzt im großen Stil eingesetzt werden? Es braucht bei allen Maßnahmen, egal wo sie ansetzen, zuerst einmal eine andere Flughöhe. Die Frage muss lauten: Was braucht das andere System jetzt? Und nicht: Wie machen wir weiter wie bisher – nur ein bisschen grüner? Das ist das Wichtigste.

STANDARD: Innovationen, neue Technologien – das geht immer. Was ist mit den trägeren sozialen Praktiken unseres Alltags?

Stagl: Ein Beispiel aus meinem beruflichen Umfeld: Es ist auch in unserem wissenschaftlichen Feld üblich, dass man für einen einzigen Vortrag und ein Abendessen in den Flieger steigt. Ein absurder Ressourcenaufwand. Wir organisieren das mehr und mehr online – mit Videokonferenzen, digitalen Meetings usw. Das funktioniert wunderbar und bringt viele Vorteile: Man spart CO2, Geld, Reisezeit. Von diesen "low hanging fruits", also den einfach umzusetzenden Maßnahmen, gibt es sehr viele, die wir zu wenig nutzen.

Wir müssen unsere Routinen und Wege im Alltag überdenken. Insofern ist bedeutend, wie wir auf die Wirtschaft schauen und auf die Bedürfnisse der Menschen. Nehmen Sie das Mobilitätsbedürfnis: Um das zu befriedigen, muss man den öffentlichen Verkehr so ausbauen, dass er eine echte Alternative zum Auto ist und eine nachhaltige Verhaltensänderung möglich macht. Das funktioniert: In Vorarlberg sind Bürgermeister stolz darauf, wenn viele Menschen in ihren Ortschaften das Auto verkaufen – weil sie es wegen des gut ausgebauten Verkehrs nicht mehr brauchen. (19.5.2019)