Stephanie Gräve macht Theater in Vorarlberg.

Foto: Anja Koehler

Theater ist manchmal zum Davonlaufen. Selbst eine Intendantin hat mal den Impuls, eine Vorstellung in ihrem eigenen Haus zu verlassen. Stephanie Gräve scheut sich nicht, das zuzugeben. Seit Herbst ist sie Chefin am Landestheater Vorarlberg und krempelt das 1945 gegründete Haus derzeit kräftig um.

So auch mit der neuesten Produktion Diorama Bregenz : Der letzte Mensch. Die Uraufführung ist ein Wagnis, für Publikum und Schauspieler. Ganz alleine wird man auf den Theaterparcours geschickt, den Regisseur Bernhard Mikeska in den Bregenzer Kulturraum Magazin 4 bauen ließ.

"Ganz ehrlich, auch ich hatte den Impuls, aus der engen Kammer zu fliehen. Aber das ging natürlich nicht", sagt Gräve. Sie hat Regisseur Mikeska nach Bregenz geholt, und sie schüttelt in ihrer ersten Bregenzer Spielzeit nicht nur das Abopublikum durch – auch wenn sie selber das nie so sagen würde. Sie will einfach gutes Theater machen.

Internationale Aufmerksamkeit

Das ist ihr bislang gelungen. Plötzlich berichten sogar internationale Medien über das kleine Theater. Mit Subventionen von 4,2 Millionen Euro liegt es hinter St. Pölten (5,1 Millionen) oder Baden (7,3 Millionen). Über Bregenz, 498 Plätze im großen Haus für knapp 30.000 Einwohner, schreiben jetzt das Online-Portal nachtkritik.de, die Fachzeitschrift Theater der Zeit.

Zur Premiere vergangenen Donnerstag kamen Kritiker von Süddeutscher Zeitung und dem Bayerischen Rundfunk. Die Bregenzer Inszenierung Spiel/Wry Smile Dry Sob von Silvia Costa eröffnet im September die neue Wiener Spielstätte Studio Molière, auch das Pariser Festival d'Automne ist interessiert. Stephanie Gräve freut sich. Nach Posten als Chefdramaturgin und Schauspieldirektorin leitet sie zum ersten Mal ein Theater. Und sie hat sich hohe Ziele gesteckt.

Szenenbild aus "Der letzte Mensch".
Foto: Heinz Holzmann

Ein paar Tage vor der Premiere Diorama Bregenz empfängt Stephanie Gräve in ihrem Büro im Theater. Es ist noch so kahl eingerichtet wie zu Spielzeitbeginn, nackte Wände, leerer Schreibtisch, leeres Sideboard. Sie sei das Gegenteil von einem Messie, sagt sie. Gräve, 50, will eine faire Arbeitgeberin sein. Sie ist, als einzige Intendantin, im Vorstand des Vereins "Art but fair". Dieser kämpft für bessere Arbeitsbedingungen an Theatern, für angemessene Bezahlung, setzt sich ein gegen Mobbing und Machtmissbrauch.

Wurde selbst gemobbt

Ein Thema, das Gräve umtreibt, seitdem sie 2016 als Schauspieldirektorin am Theater Bern rausgemobbt wurde. Nach einer halben Spielzeit wurde sie wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Intendanten freigestellt. Es folgte eine öffentliche Schlammschlacht. Und die Genugtuung, als der Intendant eineinhalb Jahre später das Haus verlassen musste.

Wobei, dass man fair mit anderen Menschen umgeht, auch mit Dingen, mit Geld, das rühre von ihrer christlich-sozialen Erziehung her, sagt Gräve. Aufgewachsen ist sie in einer kleinbürgerlichen Familie in Duisburg-Marxloh, tiefstes Ruhrgebiet.

Zum Theater kam sie während eines Praktikums im Studium, das sie dann gar nicht mehr abschloss, da sie gleich am Theater arbeitete. Und ja, sie sei angekommen in Vorarlberg, ihrer ersten Arbeitsstelle in Österreich.

Gespräche suchen

Stephanie Gräve geht es nicht um Macht, sie setzt auf Kommunikation, möchte transparent, für alle verständlich arbeiten. Gibt Einführungen vor Vorstellungen, Gespräche nach Vorstellungen. Das gelingt nicht immer, sie liest aus einer Mail: "Schade, König Ottokar war schrecklich. Ich kündige mein Abo." Sie versteht es nicht, ärgert sich, ist verletzt. Fünf solcher Briefe hat sie bekommen. "Warum suchen solche Leute nicht erst das Gespräch, anstatt gleich so eine Mail zu schreiben?"

Gräve möchte erklären, aber vielleicht wollen manche Abonnenten nichts erklärt bekommen. Sie vermissen ihr altes Landestheater, sind schon von einer agilen, authentischen Werther-Inszenierung überfordert: Man muss doch bei Goethe sich nicht in den Schritt fassen, empört sich die 83-Jährige, die neben einem sitzt. Schulklassen feiern den Abend hingegen wie ein Rockkonzert.

Teil des Geschehens

Eine völlig andere Art von Theater zeigt Diorama Bregenz. Der Gang durch das Theaterlabyrinth wird zum Gang durch die eigene Psyche. Alleine trifft man auf historische Figuren aus der Region. Die Begegnung wird nah, beklemmend, verwirrend direkt. Das ist kein Theater, das ist echt. Oder nicht? Grenzen lösen sich auf, man ist kein Zuschauer mehr. Man ist Teil des Geschehens. Das muss man aushalten.

Auch vom Weihnachtsmärchen waren viele überfordert, zu viele. 5.080 Zuschauer weniger als beim Weihnachtsmärchen im Vorjahr. "Das holen wir nicht mehr auf", sagt Gräve, obwohl sie im Abendspielplan über 1.000 Zuschauer mehr verzeichnet als in der Vorsaison. Es bewegt sich etwas, selbst im Publikum. Lange war in Bregenz die Offbühne Kosmos der Ort für modernes, aufregendes Theater. Jetzt gibt es das auch im Landestheater. (Julia Nehmiz, 20.5.2019)