Laufen – nicht, weil man will, sondern weil man muss: Sportsüchtige Läufer müssen auch in der Nacht raus.

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Sportpsychologe Stoll: "Es ist immer die Frage, inwieweit es einen Kontrollverlust gibt oder nicht."

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Immer schneller und immer weiter – das ist das Trainingsprinzip von vielen Ausdauerathleten, die nicht nur Marathon-, sondern auch Ultramarathondistanzen bezwingen. Unsportliche vermuten hinter solchen Ambitionen schnell eine "Sportsucht". Eine Sportsucht dürfte es tatsächlich geben, erklärt der deutsche Sportpsychologe Oliver Stoll.

STANDARD: Begeisterten Hobbyathleten wird ja von Mitmenschen schnell eine "Sportsucht" an den Kopf geworfen. Zu Recht?

Stoll: Es ist häufig so, dass die Allgemeinbevölkerung über Phänomene redet, ohne dass die tiefgründigen Hintergründe ganz klar sind. Mein Problem damit ist, dass es ja eine Bewertung ist, wenn man jemanden als süchtig bezeichnet – und zwar eine negative. Dabei gibt es viele leidenschaftliche Hobbysportler. Und Leidenschaft ist ja nichts Schlimmes. Ich habe kein Problem damit, wenn jemand sagt, er findet es geil, unter dem Jubel der Menschen ins Ziel zu laufen, um dadurch Selbstbestätigung zu erfahren. Das ist in Ordnung und aus meiner Sicht völlig unproblematisch.

STANDARD: Gibt es eine Sportsucht überhaupt?

Stoll: Der Stand der Dinge ist, dass es sich dabei um eine relativ seltene psychopathologische Erkrankung handelt, die allerdings noch nicht gut abgegrenzt und erforscht ist. Es steht auch noch nicht zu 100 Prozent fest, wo diese Erkrankung überhaupt zu verorten ist. Darüber streiten sich gerade die Experten.

STANDARD: Worüber genau?

Stoll: Also darüber, ob es sich um eine Suchterkrankung handelt oder um eine Impulskontrollstörung. Es gibt derzeit vier oder fünf Arbeitsgruppen weltweit, die zu dieser Thematik forschen. Für beide Theorien gibt es Evidenz.

STANDARD: Das heißt, beide Krankheitsbilder könnten auch nebeneinander existieren?

Stoll: Das ist denkbar.

STANDARD: Wie häufig tritt eine Sportsucht auf?

Stoll: Wir haben vor einigen Jahren Ausdauersportler gebeten, Fragebögen auszufüllen. Wir haben herausgefunden, dass drei Prozent der Befragten eine Sportsucht haben könnten, zwischen Männern und Frauen war die Häufigkeit relativ ausgeglichen. Ob diese drei Prozent tatsächlich von einer Sportsucht betroffen sind, kann nur ein klinisches Interview festlegen. Ich schätze, dass ein Prozent der Ausdauersportler von einer Art der Sportsucht betroffen ist. Bei der Normalbevölkerung ist der Anteil sicher verschwindend gering.

STANDARD: Wie äußert sich die Sportsucht?

Stoll: Man muss zwischen primärer und sekundärer Sportsucht unterscheiden. Die sekundäre ist eine Begleiterscheinung einer Essstörung. Hier dient exzessiver Sport einzig und allein dem Zweck, möglichst viele Kalorien zu verbrennen, weil man nicht zunehmen will. Wer aber an einer primären Sportsucht leidet, der geht beispielsweise mitten in der Nacht laufen, weil er ein Spannungsgefühl hat, das sich nur durch Bewegung lösen lässt. Der Betroffene will sich eigentlich gar nicht bewegen, aber das ist die einzige Möglichkeit, den Druck loszuwerden. Sie merken: Das klingt eher nach einer Impulskontrollstörung als nach einer klassischen Verhaltenssucht.

STANDARD: Sind besonders Marathon- und Ultramarathonläufer gefährdet?

Stoll: Mit Sicherheit nicht auf den vordersten Plätzen, denn auf Wettkämpfe muss man sich ordentlich vorbereiten und Pausentage einhalten, das kriegen Betroffene ja nicht hin, weil sonst Entzugssymptome auftreten. Ohne Erholungstage wird man aber auch nicht schneller. Marathon- und Ultramarathonläufer üben ihren Sport aus, weil sie es gerne machen – und natürlich auch, weil sie etwas dafür kriegen. Aufmerksamkeit und eine Medaille vielleicht, oder einfach ein tolles Gefühl. Profisportler leiden sicher nicht unter einer Sportsucht. Bei diesen Athleten gibt es keinen Leidensdruck – und das ist ein wichtiges Kriterium für psychische Erkrankungen.

STANDARD: Geht es bei Sportsucht immer um Ausdauersport?

Stoll: In dem Bereich, in dem ich geforscht habe, ja. Ausdauersport bietet sich zur Bewältigung einer Impulskontrollstörung auch an. Zum Laufen ist nämlich nicht viel Ausrüstung notwendig, grundsätzlich kann das jeder – egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit –, und es ist sozial weitgehend unauffällig.

STANDARD: Was sind die Alarmzeichen?

Stoll: Es kommt darauf an. Bei Suchterkrankungen ähneln sich die Warnsignale: Es gibt einen Fokus auf den Stimulus, den es zu erfüllen gilt, also das Gefühl, laufen zu müssen. Es kommt immer mehr zu einer sozialen Isolation. Betroffene brauchen eine Dosissteigerung – und sie bekommen Entzugserscheinungen. Bei einer Impulskontrollstörung hingegen macht man nur dann Sport, wenn ein Spannungsschmerzgefühl auftritt. Das kann jederzeit passieren. Betroffene sind dann plötzlich weg, um zu laufen – sogar mitten in der Nacht! Das kriegen Menschen, die ihnen nahestehen, natürlich schon mit.

STANDARD: Wie gefährlich sind solche Erkrankungen?

Stoll: Ich würde das nicht unterschätzen. Es ist schon denkbar, dass jemand im Winter nachts rausgeht, zwei Stunden läuft – und sich dann irgendwo niederlegt und erfriert. Oder sich zumindest schwer verletzt. Sport wird ja positiv konnotiert, weil er gesundheitsfördernd ist. Aber in diesem Ausmaß und Umfang ist das krankhaft.

STANDARD: Wie würde man das therapieren?

Stoll: Die klassische Methode wäre eine Verhaltenstherapie, in der an den Symptomen gearbeitet wird. Da lernen Betroffene Techniken, um sich zu entspannen. Sie lernen, Gedanken und Gefühle in solchen Situationen kontrollieren zu können. Inwieweit andere Therapieformen vielleicht sinnvoller wären, sei dahingestellt, aber die haben oft keine Kassenzulassung.

STANDARD: Zählt die Angst vor der Sportsucht als Ausrede für Unsportliche?

Stoll: Ganz sicher nicht. Unsportlichen sei gesagt: Keine Angst davor, einmal eine Runde joggen zu gehen. Die Gefahr, in eine solche Sucht reinzurutschen, ist gering. Das ist so, als ob man ein Bier trinkt und Angst hat, alkoholsüchtig zu werden. Es ist immer die Frage, inwieweit es einen Kontrollverlust gibt oder nicht. (Franziska Zoidl, 22.5.2019)