Was für ein Trauerspiel! Die Fransen baumelten von Saum und Kragen des königsblauen Wollpullovers mit dem Sternenkranz, das Model verschwand fast in dem riesigen Entwurf des Modelabels Vetements, das Anfang 2017 in Paris über den Laufsteg lief. Demna Gvasalia, der Designer des Unternehmens, hatte ein Kleidungsstück entworfen, das als Kommentar auf die große Politik verstanden werden durfte: gebeuteltes Europa!

Gvasalia setzte den Startschuss für eine breite Bewegung, die heute mehr als ein Modetrend ist: Selbst auf Amazon gibt es T-Shirts mit Sternenkranz, Kostenpunkt 18,49 Euro. Seit im Frühsommer 2016 52 Prozent der Bürger Großbritanniens für den Brexit, den Austritt aus der Europäischen Union, gestimmt haben, hat die Mode eine blaue Nostalgiewelle mit Sternchen erfasst.

Der 1955 entwickelte, seit 1983 als Europasymbol fungierende Sternenkreis (in Pantone-Gelb) auf blauem Untergrund (in Pantone-Reflex-Blau) wurde zum politischen Aushängeschild des kosmopolitischen Hipsters. Er trägt ihn seit zwei Jahren getreu dem Motto "Ich EU, und du?". Noch dazu funktioniert das simple Symbol besonders gut auf bildlastigen Social-Media-Kanälen wie Instagram.

Die Verbreitung des blau-gelben Bekenntnisses ist trotzdem einigermaßen erstaunlich. In der Vergangenheit haben es ausschließlich nationale Flaggen wie der Union Jack zu einem popkulturellen Phänomen gebracht. Doch der europäische Sternenkreis lässt die Union Flag 2019 alt aussehen.

25 Jahre nach der trunkenen Cool-Britannia-Euphorie der 1990er-Jahre unter New Labour ist die Begeisterung für den Union Jack verschwunden. Wie ein Gruß aus vergangenen Zeiten wirken heute Bilder von Gerri Halliwells Auftritt während der Brit Awards 1997 in ihrem knappen Union-Jack-Minikleid oder David Bowies Cover seines Albums Earthling, auf dem er in einem angekokelten Union-Jack-Mantel von Alexander McQueen posierte.

Trauern um Europa: Aus zwölf Europasternen wurden auf den Produkten des Berliner Labels Souvenir Original elf.
Foto: Luis Artemio de los Santos

Auf dem Prüfstand

Seit das Konzept Europa auf dem Prüfstand steht, ist alles anders. Manche Zeitungen haben die Selbstbeweihräucherung der Briten in den 1990ern gar als Katalysator nationalistischer Tendenzen ausgemacht: "Ist Britpop schuld am Brexit?", fragte das Magazin Rolling Stone im Frühjahr.

Kein Wunder, dass nun Raum ist für neue Symbole. Jene Teile der Generationen X, Y und Z, die von den Errungenschaften der EU profitieren und den Diskurs in den Medien bestimmen, sind sich einig: Es zeugt von Offenheit, sich zu Europa zu bekennen.

Die österreichische Band Bilderbuch rund um den Sänger Maurice Ernst ging im Februar mit gutem Beispiel voran. Sie stellte anlässlich der Veröffentlichung ihres neues Albums digitale EU-Reisepässe aus. Dazu musste man nicht mehr tun, als online ein Formular auszufüllen und ein Foto von sich hochzuladen. Unter dem Hashtag #Europa22 verbreiteten sich die EU-Bekenntnisse (inklusive Werbung für die neue Platte) in Windeseile im Netz.

Simple Botschaft

Bei aller Liebe zu Europa: Die Generation Z geht die Sache ökonomisch an. So hantieren jene EU-Modelabels mit Kleidungsstücken und Accessoires, die ohne großen Aufwand zu produzieren sind. Und an simple touristische T-Shirt-Botschaften wie "I love Vienna" oder "I love London" erinnern.

Es lässt sich jedenfalls Geld machen mit der Europaflagge. Sie klebt seither wie ein nostalgischer Gruß auf Pullovern, Kappen und Geldbörsen. 2017 haben die Londoner Fotografin Lea Colombo und das Model Valter Törsleff mit Eurotic "Europas inoffiziellen Souvenirladen" gegründet, sie verkaufen Sweater, Caps und Schals mit dem Europasymbol.

Auch das französisch-amerikanische Label Etudes Studio hat eine Sternderlkollektion auf den Markt gebracht. Und das bereits 2013, damit war die Streetwearmarke früher dran als die meisten anderen. Selbst amerikanische Promis wie Jay-Z tauschten Stars and Stripes gegen den Sternenkranz von Etudes ein.

Das in Berlin ansässige Label Souvenir Original hat mit seinem "EUnify Hoodie" (siehe Foto) breitenwirksam zur Sichtbarkeit des blaugelben Symbols beigetragen. Anlässlich einer Diskussionsrunde zu den Folgen des Brexits im März 2017 in der Berliner Kunstgalerie von Johann König designte Labelgründer David Mallon einen königsblauen Sweater mit elf gelben Sternen.

Katarina Barley und Johannes B. Kerner im Europa-Pulli.

Der fehlende Fünfzack? Ein Hinweis auf die Brüchigkeit der Europäischen Union. Auf dem Rücken ziert den Kapuzenpullover eine EU-Hotline – nichts geht heute ohne Ironie. Seither haben das Kleidungsstück und der dazu gehörende Hashtag #Eunify generationenübergreifend die sozialen Netzwerke erobert.

Erst zogen sich den Sweater Promis wie der Fotograf Jürgen Teller oder der Designer Virgil Abloh über, doch dann verließ er die großstädtische Blase. Mittlerweile haben sogar deutsche Politiker wie Katarina Barley, SPD-Spitzenkandidatin für die Wahl zum EU-Parlament, oder Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, öffentliche Termine in einem Sternderlhoodie wahrgenommen.

Der 73-jährige Diplomat hatte das Stück übrigens zu Weihnachten geschenkt bekommen, von seinem Enkel natürlich. (Anne Feldkamp, RONDO, 24.5.2019)