Im Theater im Berliner Norden im Diskurs zur Authentizität: Susanna Wieseneder und Simone von Stosch (re).

Foto: Tobias Kruse/Ostkreuz

Frage: Nach Aufführungen im Theater werden Schauspieler oft für ihre authentische Bühnenpräsenz gelobt. Und im Büro gilt Authentizität mittlerweile als Schlüssel zum Erfolg. Können Sie uns kurz erklären, was Authentizität überhaupt ist?

von Stosch: Also, Grundlage der Authentizität sind drei Punkte. Erstens: Ich sollte ein Bewusstsein von mir selbst entwickeln, mich selbst kennen, wertschätzen und mögen – mit allen Stärken und Schwächen. Zweitens: die Übereinstimmung von innerer Haltung und dem, was nach außen sichtbar wird. Mein Verhalten sollte also mit meinen inneren Werten und Bedürfnissen übereinstimmen. Dazu gehört auch die Freude an dem, was ich tue. Und drittens: Wertschätzung für andere unabhängig von Hierarchie und Bedeutung. Authentizität im Job bedeutet jedoch nicht, seinen Impulsen und Emotionen ungezügelt freien Lauf zu lassen. Zu einem authentischen Auftreten gehört die Fähigkeit, sich selbst führen zu können und unter Kontrolle zu haben.

Frage: Einverstanden, Frau Wieseneder?

Wieseneder: Im rein persönlichen Bereich auf jeden Fall. Wenn wir aber über die Arbeitswelt reden, kommt es aus meiner Sicht gar nicht so sehr auf Authentizität an.

Frage: Sondern?

Wieseneder: Es geht darum, wie glaubwürdig wir unsere Rollenausfüllen können. Als Ärztin sollte ich meinem Patienten zum Beispiel vor der OP besser nicht erzählen, wie schlecht ich letzte Nacht geschlafen habe. Und als Fondsmanagerin behalte ich es auch besser für mich, wenn mir eine Entscheidung des Vorstands gegen den Strich geht. Im Job geht es leider nicht darum, immer zu 100 Prozent mit sich selbst im Reinen zu sein. Viel wichtiger ist, dass ich meine Rollenerwartung erfülle.
von Stosch: Da möchte ich widersprechen. Glaubwürdigkeit entsteht doch erst durch die Authentizität in der jeweiligen Rolle. Natürlich ist meine Rolle als Ehefrau eine andere als die der TV-Moderatorin oder Trainerin. Aber ich bleibe ja trotzdem der gleiche Mensch. Und je mehr meine inneren Werte und Überzeugungen mit meiner Rolle übereinstimmen, desto glaubwürdiger kann ich sie verkörpern. Das nennt man übrigens Charisma.

Frage: Also spielen wir im Leben alle nur Theater und am Ende kommt es darauf an, wer der authentischste Schauspieler ist?

Wieseneder: Das würde ich so nicht sagen. Den Vergleich zum Schauspiel finde ich auch unpassend, weil er so negativ besetzt ist. Das klingt immer nach Inszenierung und Unechtheit.

Frage: Deswegen kommt es ja darauf an, authentisch zu schauspielern.

Wieseneder: Nochmal nein. Es kommt auf Glaubwürdigkeit an. Der Begriff Authentizität war mal für unsere privaten Herzbeziehungen reserviert. Erst in den letzten 50 Jahren ist er ins Politische und Wirtschaftliche geschwappt. Authentisch zu sein gilt ja heute als Olymp der Persönlichkeitsentwicklung. Alles muss zusammenpassen: Job, Privatleben, Hobbys. Erst wenn ich authentisch bin, bin ich ein guter Politiker, ein erfolgreicher Manager, ein toller Sportler. Der Punkt ist, dass wir in kompletter Authentizität auch ziemlich ungeschützt sind. Und ich weiß nicht, ob es in der Wirtschaft und Politik wirklich so gut ist, oder ob da eine glaubwürdig verkörperte Rolle nicht zielführender ist.

von Stosch: Stopp! Für mich heißt Authentizität auch nicht, sein Inneres ungeschützt nach außen zu kehren. Ich glaube, wir müssen uns den Begriff nochmal genauer anschauen. In der Antike bedeutete er schlicht: echt! Der Ursprung ist das griechische Wort authentikós. Es diente dazu, eine Fälschung vom Original zu unterscheiden. Im Lateinischen verschob sich der Begriff mehr in Richtung verbürgt und gewichtig in Abgrenzung zum bloßen Schein. Heute nennen wir es echt, wenn jemand sichtbar in Übereinstimmung mit seinen Werten und Bedürfnissen lebt und anderen mit Wertschätzung begegnet. Und wenn man das zugrunde legt, sind wir doch sehr weit vom Olymp der Authentizität entfernt. Gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging es beruflich um Macht und darum, sich eben nicht in die Karten schauen zu lassen, sondern möglichst gekonnt seine Rolle zu spielen. Diese Bereitschaft, sich anzupassen und die Erwartungen anderer zu erfüllen, ist noch immer groß. Aber ich erlebe auch, dass es einen gegenläufigen Trend gibt – hin zu mehr Selbstverantwortung und Authentizität.

Frage: Gerade im Berufsleben muss man aber immer noch oft Entscheidungen treffen, die einem persönlich vielleicht nicht so gut gefallen.

von Stosch: Das meine ich auch nicht mit Authentizität. Nochmal: Es geht nicht darum, seine inneren Befindlichkeiten oder Wehwehchen nach außen zu tragen. Es geht um Echtheit. Darum, auch im Job mit seinen Überzeugungen übereinzustimmen. Ich glaube, dass der Hang, sich angepasst zu verhalten und immer zu überlegen, was gerade von einem erwartet und verlangt wird, vor allem in Unternehmen noch immer viel zu stark ausgeprägt ist. Aber ohne Echtheit kann es auch keine lebendige und innovative Unternehmenskultur geben.

Wieseneder: Ich mache aber die Erfahrung, dass viele junge Menschen mit so einer Haltung scheitern. Die kommen in ihren ersten Job und wollen vollkommen authentisch sein, ganz bei sich selbst. Und das ist ja auch eine schöne Idealvorstellung. Aber am Ende hält es eben kaum einer durch. Vor allem die nicht, die Karriere machen. Irgendwann müssen auch die Kompromisse machen. Authentizität im Top-Management oder in der Spitzenpolitik ist doch eine Illusion.

von Stosch: In meiner Erfahrung halten gerade im Top-Management eher diejenigen den Druck aus, die auch mal Schwäche, Fragen oder Selbstzweifel zulassen und das ehrlich zeigen. Und ich glaube auch, dass diese Menschen die größere Überzeugungskraft haben.

Wieseneder: Das stimmt. Trotzdem muss man in solchen Positionen permanent unbequeme Dinge tun und Entscheidungen mittragen, die man mitunter nicht teilt. Da kommt man ums gelegentliche Verbiegen nicht herum. Und ich sage bewusst verbiegen und nicht brechen.

Frage: Haben Sie dafür ein Beispiel?

Wieseneder: Nehmen wir mal an, Sie müssen als Verantwortlicher Standorte schließen, weil es eben nicht anders geht. Ihre persönlichen Werte sagen Ihnen aber, dass Sie die Leute viel lieber halten und fördern würden. Deswegen schlafen Sie ganz mies. Die große Herausforderung ist jetzt, von der persönlichen Authentizität in eine Glaubwürdigkeit zu wechseln. Sie müssen eine Strategie finden, mit der sie die Entscheidung durchführen können, aber trotzdem nahe bei Ihrer Haltung bleiben. Und Sie sollten ihre schlaflosen Nächte für sich behalten.

Frage: Also doch keine Schwäche zeigen?

von Stosch: Hier muss ich mal einhaken, denn da bin ich mit Frau Wieseneder ganz auf einer Linie. Wer in einem Unternehmen Verantwortung trägt, sollte seine inneren Gefühle im Griff haben. Dafür wird er schließlich bezahlt. Aber das widerspricht meiner Definition von Authentizität gar nicht. Es geht darum, eine Haltung zu finden, mit der man solche Entscheidungen tragen kann. Wenn ich allerdings permanent gegen meine Grundüberzeugungen agiere, wird es irgendwann kritisch.

Frage: Wir spielen im Berufsleben also permanent Rollen und die Frage ist eigentlich nur, ob und wie stark unsere Persönlichkeit mit dieser Rolle übereinstimmt? Ein eher introvertierter und harmoniebedürftiger Mensch hat demnach als Anwalt, Trader oder Schiedrichter eher schlechte Karten.

Wieseneder: Natürlich wird man aus einer zurückhaltenden Persönlichkeit nie einen Händler machen, der am Börsenparkett herumbrüllt und hohes Risiko auf sich nimmt. Das ist aber auch ganz gut so. Trotzdem bin ich überzeugt, dass sich Menschen entwickeln können. Wir bleiben ja nicht dort stehen, wo wir zur Welt gekommen sind. Reife, Wachstum und Entwicklung gehören zu unserer Persönlichkeit dazu.

von Stosch: Sehe ich genau so. Nicht jeder muss zur Führungspersönlichkeit werden. Genauso wie nicht jeder Bäcker werden muss. Ich glaube aber, dass es nicht nur die Fähigkeit, sondern sogar eine Sehnsucht nach Selbstentwicklung gibt. Vielleicht könnte man Authentizität auch so definieren: Werde der, der du sein könntest.

Wieseneder: Ja, und die jüngeren Generationen nehmen sich das tatsächlich zu Herzen. Die sind in ihren Jobs viel experimentierfreudiger als unsere Eltern, Großeltern und wir selbst. Mal eine Agentur, dann Beratung, Großkonzern, Familienunternehmen. Da wird fröhlich ausprobiert.

Frage: Das heißt: Immer wieder in verschiedene Rollen hineinschlüpfen und schauen, ob sie zu einem passen, bis man eine gefunden hat, die man authentisch und glaubwürdig ausfüllen kann?

Wieseneder: Genau. Früher sind die meisten Leute ja doch der beruflichen Laufbahn treu geblieben, die sie einmal eingeschlagen hatten. Das ist heute anders.

von Stosch: Und es geht noch viel weiter. Die lineare Erwerbstätigkeit stirbt aus. Wir müssen lernen, mit Brüchen, Neuanfängen und Berufswechseln umzugehen. Das erfordert die Rückbesinnung auf die eigene Persönlichkeit, auf das, was ich kann, will und bin. Auf das eigene Fundament. Und in der Hinsicht bringen viele junge Leute einiges mit. Sie sind krisenerprobter und können das Scheitern, wenn auf dem Weg mal etwas schief geht, besser annehmen. Ganz nach dem Motto: Wenn Weg A nicht so erfolgreich war, dann nehm ich jetzt eben Weg B. Das ist doch eine tolle Entwicklung, finde ich, und eine riesige Chance.

Frage: Eine letzte Frage: Geht es im Job auch ohne Authentizität?

Wieseneder: Ja. Im Job brauche ich Glaubwürdigkeit. In meinen Herzbeziehungen Authentizität.
von Stosch: Da muss ich leider zustimmen. Wir sehen ja jeden Tag, zum Beispiel in der Politik, dass es auch ohne Authentizität geht. Ob das erstrebenswert ist, ist eine andere Frage. (25./26.5.2019)