Die Mull-Muller tanzen am Freitag erstmals in Hall in Tirol neben dem Kurhaus auf.

Foto: Daniel Jarosch

Die Kostüme sind zur Gänze aus Müll gestaltet, die Tänze sind die traditionellen.

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Vor allem live, mit Ziachorgel-Begleitung ist das Schautanzen ein Erlebnis.

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Die "Hitt-Coins" für die Aktion "Herz aus Stein" wurden eigenhändig auf der Felsnadel gesammelt.

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Die "Hitt-Coins" beim Abtransport auf der Nordkette.

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Armut wieder sichtbar machen. Am Innsbrucker Christkindlmarkt gilt strenges Bettelverbot.

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Jarosch, Pirker und Co beim Einzug in die Innsbrucker Altstadt.

Foto: Daniel Jarosch

Hall in Tirol – Im erzkatholischen Tirol ist gesellschaftskritische Kunst nicht gerngesehen. Das zeigt sich im Moment recht anschaulich anhand des "Grüss Göttin"-Schildes, welches seit seiner Wiederaufstellung in Innsbruck alle paar Tage Ziel von Zerstörungsversuchen wird. Zuletzt wurde eine 43-Jährige auf frischer Tat ertappt, als sie das Schild übermalte. Die Frau war ob des Kunstwerks derart in Rage, dass sie sogar auf die einschreitenden Polizisten losging, was ihr neben Sachbeschädigung auch eine Anzeige wegen tätlichen Angriffs auf Polizeibeamte einbrachte.

Es braucht also ganz besonderes Fingerspitzengefühl, um im Heiligen Land des zum Freiheitskämpfer verklärten Andreas Hofer Gesellschaftskritik vorzubringen. Daniel Jarosch und Stephan Pirker stellen genau dieses Gespür immer wieder mit ihren kreativen und durchdachten Projekten unter Beweis. Ihr neuester Streich sind die Mull-Muller, die am Freitag erstmals beim Kurhaus in Hall auftanzen werden.

Brauchtum neu interpretieren

Für Nichttiroler sei kurz erklärt: Die Muller oder auch Matschgerer sind traditionelle Fasnachtsfiguren, die in den sogenannten Martha-Dörfern bei Innsbruck (Mühlau, Arzl, Rum, Thaur, Absam) den Winter austreiben. Verschiedene Charaktere in aufwendig gestalteten Kostümen spielen dabei wichtige Rollen. Spiegeltuxer, Melcher und Weißer stehen für den Frühling und Sommer. Zottler, Zaggler, Klötzler und Hexen sind wiederum die Vertreter des Herbstes und Winters.

So geht es beim traditionellen Mullerschaugn zu. Die Aufnahmen zeigen Thaurer Muller und Absamer Matschgerer im Jahr 2017.
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Diese Figuren tanzen zur Fasnacht nach streng vorgegebenen Schrittfolgen durch die Dörfer. Ein Schlag von den Kostümierten auf die Schulter bedeutet Glück und Fruchtbarkeit für das kommende Jahr. Die Umzüge gelten als Höhepunkt der Fasnachtszeit, die Dörfer wechseln sich jährlich mit der Ausrichtung ab. Jarosch stammt selbst aus Arzl und wuchs mit dieser Tradition auf. In den Familien werden die Figuren oft sogar weitervererbt – war der Vater Spiegeltuxer, so wird auch der Sohn diese Rolle übernehmen.

Mull-Muller-Workshop in Hall in Tirol

"Mich hat dieses Brauchtum schon immer fasziniert", erklärt Jarosch. Schon vor Jahren sei daher die Idee entstanden, Mull-Muller zu kreieren. "Mull" ist im Tiroler Dialekt der Ausdruck für Müll, daher das Wortspiel. Im Zuge des 30-jährigen Jubiläums des Kulturlabors Stromboli in Hall in Tirol, das von 23. Mai bis 2. Juni zelebriert wird, hat er zusammen mit Pirker die langgehegte Idee endlich umgesetzt. Allein aus Müll entstanden teils täuschend ähnliche, teils irrwitzige Muller-Kostüme. Zusammen mit "echten" Mullern wurden die traditionellen Tänze einstudiert.

Das Ergebnis ist eine einzigartige Verquickung von Tradition und Gesellschaftskritik. Erst bei genauerem Hinsehen offenbart sich, dass die prächtigen Kostüme eigentlich Abfall sind. Vom Schmunzeln gerät man beim Betrachten ins Grübeln. Jarosch beschreibt die Idee hinter den Mull-Mullern so:

"Die originalen Muller verweisen auf eine bäuerliche Gesellschaft, die nicht mehr existiert. Offensichtlich gab und gibt es ein Bedürfnis, wirkmächtige Kräfte der Umwelt als Masken zu personifizieren. Bei den Mullern sind es die Jahreszeiten, welche die bäuerliche Lebenswelt maßgeblich beeinflussen. Die Mull-Muller versuchen die Abfallprodukte unserer Konsumgesellschaft zu bannen. Es mag den Mullern ein rituell-magisches Weltbild zu Grunde liegen, aber die Mullerei ist wie die Mull-Mullerei nicht ritual, sondern Performance. Oder kommt der Frühling doch, weil die Muller laufen und nicht umgekehrt?"

Während der Jubiläumswoche in Hall, nicht umsonst Heimat des legendären Kabarettisten Otto Grünmandl, werden Jarosch und Pirker im eigens dafür errichteten Container-Künstler-Dorf einziehen. "Wir werden die ganze Woche über den anfallenden Müll sammeln. Am 31. Mai veranstalten wir dann einen Workshop, wo man sich selbst daraus ein Mull-Muller-Kostüm basteln kann und die Tänze einstudiert", erklärt Jarosch das Vorhaben.

Gegen die Versteinerung der Herzen

Es ist nicht die erste derartige Aktion der kreativen Truppe. Erst im Dezember des Vorjahres sorgten sie mit "Herz aus Stein" in Innsbruck für Aufsehen. In Tirols Landeshauptstadt gelten rigide Verbote, die auf die Ausgrenzung sozial Schwacher abzielen. Wer bettelt oder obdachlos ist, wird mit Geld- oder Freiheitsstrafen traktiert. Das Elend soll schließlich die Postkartenidylle für die Touristen nicht stören und muss daher mit allen Mitteln bekämpft werden, so die unmenschliche Logik dahinter. Die Verbote wurden politisch von ÖVP, FPÖ und dem ÖVP-Ableger Für Innsbruck durchgesetzt.

Zusammen mit Kata Hinterlechner und Boko Gastager haben Jarosch und Pirker den Versuch gestartet, der Ausgrenzung der Armen mit kreativer Menschlichkeit entgegenzutreten. Sie beriefen sich dabei auf eine bekannte Sage. Denn auf der Nordkette, dem schroffen Kalkgebirge nördlich von Innsbruck, ist dieser Sage nach die versteinerte Frau Hitt zu sehen – eine markante Felsformation, die einer weiblichen Silhouette gleicht. Die Riesenkönigin Frau Hitt endete als Felsen, weil sie dereinst einer Bettlerin einen Stein statt des erbetenen Brotes gegeben haben soll.

"Hitt-Coins" als Währung der Menschlichkeit

Die Aktion "Herz aus Stein" wollte auf die prekäre Lage der Bettler aufmerksam machen und zugleich dazu auffordern, sich mit den Menschen auf der Straße auseinanderzusetzen, anstatt sie auszublenden. Dazu wurden 300 sogenannte "Hitt-Coins" an Passanten in Innsbruck verteilt. Die "Hitt-Coins" sind Felsen, die die Aktivisten eigenhändig von der echten Frau Hitt geholt hatten und ins Tal transportierten. Die Aktion war als Protest gegen das als Frevel empfundene Bettelverbot sowie als bewusstseinsbildende Maßnahme gleichermaßen gedacht. Die Gruppe beschrieb ihre Absicht wie folgt:

"Wir werden 300 Steine von der Frau Hitt holen, mit einem Erkennungszeichen versehen und so in eine Hitt-Coins genannte Währung verwandeln. Gegen eine Spende von zehn Euro kann man bei uns einen Hitt-Coin übernehmen. Die Spenderinnen werden informiert, dass sie den Stein gerne einer bettelnden Person in Innsbruck geben können. Der Stein verdoppelt durch diese Handlung seinen Wert, denn die Bettlerin erhält bei Rückgabe des Steins von uns ein Honorar von 20 Euro für ihr Mitwirken an der Kunstaktion. Die 'verschenkten' Steine werden von uns täglich eingesammelt oder bei unserer Hütte (hinter dem Christkindlmarkt in der Altstadt) abgegeben. Im Frühjahr tragen wir mit möglichst vielen Menschen gemeinsam die Steine zurück zur Frau Hitt, wo wir eine Steinskulptur am Herz der versteinerten Riesenkönigin anbringen. Diese Skulptur soll ein Mahnmal gegen drohende Versteinerung sein."

"Gemma Mull-Muller schaugn!"

Mittlerweile sind alle Steine wieder eingesammelt, und das Geld wurde an die jeweiligen Empfänger ausbezahlt. "Nur der letzte Akt steht noch aus. Sobald der Schnee weg ist, werden wir die Steine zurück auf die Frau Hitt tragen und dort eine Skulptur daraus formen", erklärt Jarosch.

Doch noch bevor das passiert, werden die Mull-Muller beim Haller Kurhaus auftanzen. Am Freitag, dem 24. Mai 2019, um 18 Uhr findet die erste Aufführung statt. Dann heißt es "Gemma Mull-Muller schaugn"! Ein Video des Mull-Muller-Tanzes wird an dieser Stelle ergänzt. (Steffen Arora, 23.5.2019)