Pedro Almodóvars neuer Film "Dolor y Gloria" ist ein heißer Anwärter auf die Goldene Palme in Cannes. Penelope Cruz spielt die Mutter eines Regisseurs, der von Erinnerungen heimgesucht wird

Foto: Filmfestival Cannes

1. Die Gelassenheit am Markt ist trügerisch.

Nach dem Fest ist vor dem Fest: Mit Netflix verhielt es sich in Cannes wie mit dem Elefanten im Zimmer, über den niemand sprechen wollte. Der unerwünschte Streaming-Anbieter war, wie man hören konnte, mit eigenem Akquisitionsteam angereist. Hinsichtlich der Einkäufe hält man sich bisher jedoch bedeckt. Nach einer aktuellen Studie der Sorbonne landeten allerdings bisher ohnehin 39 Prozent aller Cannes-Titel irgendwann im Netflix-Programm.

Es ist keine Neuigkeit mehr, dass das Publikum Filme immer schneller und an mehreren Orten konsumieren will. Im Kinosektor wird man darauf mit wendigeren Verwertungszyklen reagieren müssen. Cannes gibt sich noch als eiserner Unterstützer des kollektiven Filmerlebnisses. Um als Weltbühne für Filmschaffende unentbehrlich zu bleiben, braucht das Festival aber auch die neuen Player am Markt. Noch läuft das Geschäft gut, wie man auch an Jessica Hausners Horrorkomödie Little Joe sehen kann. Es wird der bestverkaufte Film der Österreicherin sein, der auch in bisher unerreichbaren Ländern starten wird.

2. Die Regisseure kreisen um sich selbst.

Der Wettbewerb von Cannes bot hohes Niveau, stilistische Revolutionen blieben jedoch aus. Die Regel war der Rückzug ins eigene Leitsystem, wo man sich mit Stilverfeinerungen und Autofiktionalem bei Laune hält. Eines der besten Beispiele dafür, Pedro Almodóvars Dolor y Gloria (Schmerz und Ruhm), war auch einer der Kritikerfavoriten. Der spanische Regisseur schickt mit Antonio Banderas einen seiner Lieblingsschauspieler in ein selbstreflexives Labyrinth. Was ist wahr, was erfunden? In Almodóvars Film erklingt ein ganz eigener Tonfall aus Ironie und sanfter Wehmut. Die Eleganz, mit der er den eigenen Schaffensprozess reflektiert, von Erinnerung, tiefen Empfindungen sowie Kränkungen erzählt, macht Dolor y Gloria zu seinem besten Film seit Jahren. Auch Malicks Jägerstätter-Film A Hidden Life, in dem die weihevolle Ästhetik des US-Maestros trefflich mit dem Sujet harmoniert, oder Quentin Tarantinos lässige Umschreibung der Hollywood-Vergangenheit in Once Upon a Time ... in Hollywood kann man als persönliche Unternehmungen verbuchen.

3. Der neue Horror entsteigt der sozialen Polarisierung.

Wann immer es in Filmen um die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ging, kam das Genrekino zum Zug. Bong Joon-ho thematisiert in Parasite eine schleichende Unterwanderung. Die Mitglieder einer Unterschichtsfamilie übernehmen im Haus des Klassenfeinds die Dienstbotenrollen: Das groteske Geschehen, in dem irgendwann die einen auf der Couch, die anderen darunter zu liegen kommen, kostet der Koreaner mit bösem Witz bis zum bitteren Ende aus. Ein weiteres Beispiel: Bacurau von den Brasilianern Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles, die den Überlebenskampf einer Dorfgemeinschaft gegen Menschen jagende Touristen inszenieren. In beiden Filmen bietet das Genre die äußere Form, um Antagonismen grell zu verdeutlichen. Das Kunstkino bot darauf zwei hochoriginelle Antworten: Bertrand Bonellos Zombi Child entdeckt im Teenagerdrama via den Zombiefilm gegenaufklärerische Energien. Und Albert Serras großartig antiklimaktischer Liberté lässt die Idee der Libertinage im Wald in erektilen Dysfunktionen verkümmern und warmen Urinbächen versickern.

4. Regisseurinnen bringen neuen Elan.

Mit vier Regisseurinnen im Wettbewerb hat Cannes zwar noch keinen Berg bewegt, doch die Vertreterinnen einer jüngeren Generation wussten ihre verbesserten Startplätze gut zu nützen. Neben Mati Diop und Céline Sciamma sahen manche alte Festivalhasen wie Ken Loach oder die Dardenne-Brüder mit ihren Routinearbeiten ein wenig saftlos aus. Während die Franco-Senegalesin Diop mit Atlantique ein visuell bestrickendes Sozialdrama entwirft, das sich zum Geisterhaften neigt, ging Sciamma mit genderpolitisch gedrehtem Blick gegen den Historienfilm in die Offensive. Portrait de la jeune fille en feu lotet erfindungsreich die feinen Verschiebungen im Verhältnis zweier Frauen aus, einer jungen Adeligen (Adèle Haenel) und ihrer Malerin (Noémie Merlant). Mit der Anfertigung des Porträts begegnen sich die beiden auf Augenhöhe. Sciamma zeigt nicht nur, wie ein Darstellungsakt die Verhältnisse aus der Balance bringt; die stärksten Momente hat ihr Film dort, wo er auf einer bretonischen Insel des Jahres 1770 eine weibliche Utopie entwirft. Zwei Frauen mit einem Dienstmädchen, die soziale Rollenbilder gänzlich negieren. (Dominik Kamalzadeh, 25.5.2019)