Eine Auswahl an Kommentaren internationaler Tageszeitungen zur Europawahl am Sonntag, bei der die beiden großen Parteienfamilien – die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten – ihre seit 1979 bestehende gemeinsame Parlamentsmehrheit verloren haben.

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"Guardian" (London): Fragmentiertes Parlament

"Es ergibt Sinn, dass die zwei großen Gruppen Sitze verloren haben und, erstmals in der Geschichte, ihre gemeinsame Mehrheit. (...) Das Ergebnis wird ein Parlament sein, das so fragmentiert ist wie nie zuvor. Und das 'Weniger Europa'-Lager aus Nationalisten, Souveränisten und Euroskeptikern, selbst gespalten durch große Unterschiede bei Ideologie und Politik, spiegelt diese Zerrissenheit wider.

Das bedeutet, dass die Art von direkten Mehrheiten, die früher im Parlament erreicht wurden, um die EU-Gesetzgebung voranzubringen, unwahrscheinlicher ist. Spontane, gruppenübergreifende Koalitionen werden üblicher werden, was wahrscheinlich Entscheidungsfindungen in heiklen Fragen erschweren wird, etwa beim nächsten EU-Haushaltsbeschluss, Grenzkontrollen oder Klimaschutzmaßnahmen."

"Gazeta Wyborcza" (Warschau): Entrückte Vision

"Die Europäer lähmt seit längerer Zeit die Angst um ihre Zukunft. (...) Selbst dort, wo Frieden das Selbstverständlichste ist, fürchten sie Studien zufolge Instabilität und Kriege. Vielleicht können die Populisten deswegen nicht von einem Erfolg sprechen. Die Vision, dass sie Europa übernehmen, ist entrückt. Die Verteidiger eines vereinten Europas haben der EU fünf Jahre Zeit gekauft.

In dieser Zeit müssen sie die Ängste der Europäer besänftigen, sich um den Schutz der europäischen Grenzen kümmern und auf gesellschaftliche Veränderungen eingehen. Europa muss imstande sein, die eigene Zukunft zu erschaffen, und nicht dabei zusehen, wie außerhalb seiner Grenzen über seine Zukunft entschieden wird."

"Corriere della Sera" (Mailand): Persönlicher Erfolg

"Der junge Bundeskanzler Sebastian Kurz steckt einen weiteren persönlichen Erfolg ein. Eine Woche nach der Regierungskrise ist seine ÖVP der klare Sieger der EU-Wahlen. Die FPÖ verliert unter dem Druck von Ibiza-Gate zwar an Stimmen, ohne jedoch zusammenzubrechen. Der Kanzler ist nicht nur unversehrt aus dem Skandal hervorgegangen, der seinen Regierungsverbündeten überrollt hat, sondern hat seiner ÖVP geholfen, Stimmen von den enttäuschten FPÖ-Wählern zu gewinnen."

"Liberation" (Paris): Starke Ökos

"Grün wie die Hoffnung: Das ist das beruhigendste Ergebnis dieser Europawahlen. Fast überall in der Europäischen Union – in Frankreich, aber auch in Deutschland, Belgien und anderen Ländern – hat der Durchbruch der Ökoparteien dem Urnengang Farbe verliehen. Auch die gestiegene Wahlbeteiligung auf dem Kontinent hat die Vorhersagen Lügen gestraft. Man kann nun nicht mehr sagen, dass Europa nicht interessiert."

"Politiken" (Kopenhagen): Neue Fronten

"Bis vor kurzem wurde der europäische Tag des Jüngsten Gerichts prophezeit. Aus der Wahl am Sonntag tritt nun ein ganz anderes Europa hervor. Erstens sehen wir jetzt eine wirklich neue Kraft: eine grüne Kraft. Sie wurde von einer klassischen Niederlage vieler traditionellen Parteien aus dem sozialdemokratischen S&D-Block und der bürgerlichen EVP-Gruppe begleitet. Deren Rückgang bedeutet, dass sie sich die Macht nicht länger aufteilen können. Sie sind nun gezwungen, der grünen Bewegung zuzuhören, die zu erfassen sie bisher zu langsam waren.

Das ändert nichts daran, dass es in Europa weiter eine andere Kraft gibt: den Nationalismus. So sehen also die neuen Fronten in der europäischen Politik aus: eine grüne Welle, die die europäische Zusammenarbeit als Lösung der Klimaprobleme unseres Jahrhunderts betrachtet, und ein nationalistischer Flügel, der die Zusammenarbeit als Problem betrachtet."

So sehen es Aktivisten: "Europe resists", Europa widersteht.
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"De Morgen" (Brüssel): Kein großer Handstreich

"Die Euroskeptiker werden immer stärker, aber der große Handstreich bleibt aus. Hier und da wurde erwartet, dass eine Welle von populistischen und euroskeptischen Parteien das Europäische Parlament überfluten würde. Mit Matteo Salvini und Marine Le Pen haben einige Anführer ihre nationalen Wahlen gewonnen, aber das scheint nicht auszureichen, um das Kräfteverhältnis im Europäischen Parlament ordentlich durcheinanderzubringen."

"El Mundo" (Madrid): Ernsthafte Warnungen

"Der Sieg der extremen Rechten von Marine Le Pen in Frankreich, das großartige Ergebnis von Matteo Salvini in Italien oder die Tatsache, dass sich die Brexit-Partei von Nigel Farage in Großbritannien durchgesetzt hat, sind ernsthafte Warnungen: Die Anführer der Union müssen nun ihre Führungsrolle unter Beweis stellen und endlich das Steuer eines Schiffes in die Hand nehmen, das schon viel zu lange nicht mehr auf Kurs ist."

"Magyar Nemzet" (Budapest): Jenseits aller Vernunft

"(Bundeskanzlerin Angela) Merkel und (der französische Präsident Emmanuel) Macron erhielten ein dickes Nein. Jenseits des Ärmelkanals und aller Vernunft siegten – als neuerliche Perle des britischen Humors – (Nigel) Farage und seine Brexit-Partei.

Das zehn Millionen Einwohner starke Ungarn kann naturgemäß nicht jedes Dilemma, jede Sorge des gesamten europäischen Kontinents mit einer halben Milliarde EU-Bürgern schultern. Unsere (ostmitteleuropäische) Region erfährt aber eine zunehmende Aufwertung und kann nicht zum ersten Mal in der Geschichte dem Westen ein Beispiel geben. Im Europa des 14. Jahrhunderts, das maurische Kriegszüge, der 100-jährige Krieg, die Avignoner Gefangenschaft der Päpste und die inneren Konflikten des Römischen Reichs Deutscher Nation erschütterten, war es (der ungarische König) Karl Robert, der beim Visegráder Königstreffen im Jahr 1335 durch den Friedensschluss mit dem tschechischen König Johann und dem polnischen Herrscher Kasimir dem Großen (...) eine ihrer Zeit weit
vorauseilende politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit auf den Weg brachte." (red, 27.5.2019)