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Foto: APA/AFP/GETTY IMAGES/Dimitrios K

Ein eleganter Hinterhof in der Pariser Avenue Montaigne. Carine Roitfeld sitzt in ihrem Büro an einem gläsernen Schreibtisch, durch den man auf ihre perfekt gekreuzten wohlgeformten Beine blicken kann. Noch bevor man ihr die erste Frage stellt, schießt ein Gedanke durch den Kopf: ob sie diese Glasplatte wohl genau aus diesem Grund gewählt hat?

Denn Roitfeld muss sich mit ihren 64 Jahren alles andere als verstecken. Sie hat den Körper einer 20-Jährigen und ist stolz darauf: Auf dem Werbeplakat ihrer neuen Parfümlinie präsentiert sie sich splitternackt von hinten. "Gewagt, oder?", sagt sie mit verschmitztem Lächeln und fügt dann hinzu: "Ich war schon immer schamlos."

Auf dem weißen Sideboard hinter ihrem Schreibtisch stehen kleine Funko-Pop!-Figuren von "Game of Thrones". Roitfeld ist offensichtlich ein Serienfan. Aber auch sie selbst würde eine ziemlich gute Sammlerfigur abgeben. Ihr Look ist unverkennbar: kohlschwarz umrahmte Augen, figurbetonter schwarzer Rock, schwarze enge Lederjacke, hohe Stiefeletten. Und vor ihr liegt eine ihrer übertrieben großen Sonnenbrillen, die aussehen, als würde sie damit gleich die Pisten herunterbrettern.

Die ehemalige Chefredakteurin der "Vogue" Frankreich, die 64-jährige Carine Roitfeld, provoziert gerne. Sie brachte als eine der Ersten ein Transgender-Model aufs Cover.
Foto: Hedi Slimane

Karriere mit Porno-Chic

Roitfeld machte sich in den 80er-Jahren als Stylistin und Muse von Tom Ford einen Namen. Mit ihm und dem Fotografen Mario Testino produzierte sie provokante Werbekampagnen für Gucci, bei denen ein Model mit in die Schamhaare rasiertem Markenlogo zu sehen war. Dieses und andere anrüchige Bilder brachten ihr den zweifelhaften Titel "Königin des Porno-Chics" ein.

Roitfeld sagt dazu gelassen: "Das Wort Erotik fände ich eleganter." Was soll sie sich auch darüber aufregen? Der Titel hat ihr nicht geschadet. Zehn Jahre lang war sie Chefredakteurin der französischen Vogue und sorgte mit ihren skandalträchtigen Modestrecken für steigende Verkaufszahlen. Doch Ende 2010 war dann überraschend Schluss.

Kurz vorher hatte sie mit einer Schmuckserie mal wieder für Aufregung gesorgt, in der sie kleine Mädchen wie Lolitas geschminkt und herausgeputzt hatte. Ob sie tatsächlich selbst kündigte oder der Verlag Condé Nast die Reißleine zog, um sich am heißen Roitfeld-Eisen nicht noch mehr die Finger zu verbrennen, ist bis heute unklar.

"Es geht mir nicht in erster Linie darum, zu schockieren", behauptet die Französin mit russischen Wurzeln. "Eher darum, Grenzen auszutesten und Toleranz zu fördern. Ich war eine der Ersten, die ein Transgender-Model auf das Cover brachten oder eine Frau mit Kopftuch. Ich habe ganze Nummern über reife oder runde Frauen gemacht. Das Interessante ist: Sie wissen nie, an welcher Stelle sie am Ende schockieren. Manchmal regen sich die Leute über Dinge auf, bei denen sie es nie erwartet hätten."

Zu weit gegangen sei sie eigentlich nie, findet sie. Manchmal habe man schlicht und ergreifend ihren Humor nicht verstanden. Dass PETA zum Beispiel über ihre Fotoserie schimpfte, bei der sie Pelzmode zeigte und im Hintergrund Demonstranten mit Protestschildern aufstellte, kann Roitfeld nicht nachvollziehen. "Das war augenzwinkernd gemeint und nicht gegen PETA. Aber die haben das wohl anders interpretiert", sagt sie schmunzelnd.

Roitfeld mit Model Kendall Jenner (l.) im Mai bei der AmfAR-Gala in Cap d'Antibes.
Foto: apa/afp/pizzoli

Umtriebig und einflussreich

Seit ihrem Rücktritt ist sie präsenter denn je: 2011 brachte sie ihr Buch Irreverent heraus, 2012 gründete sie ihr eigenes Magazin CR Fashion Book, 2014 machte sie mit Karl Lagerfeld zusammen das Buch La Petite Veste Noir und ist darüber hinaus immer noch als Stylistin für Werbekampagnen von Chanel, Jean Paul Gaultier oder Givenchy aktiv. Erst kürzlich wurde sie zur Stilberaterin der Marke Karl Lagerfeld ernannt.

Auf Instagram hat sie über 1,5 Millionen Follower. Das schaffen in ihrer Altersklasse nur wenige. Anstatt sich für ihre Posts bezahlen zu lassen, indem sie ihre Kleider verlinkt, lässt sie ihre Follower lieber an ihrem Leben teilhaben, zeigt sich authentisch, erreichbar und sympathisch. Das gefalle den Leuten, glaubt Roitfeld. "Ich bin weder die Jüngste noch die Schönste. Die Leute können sich mit mir identifizieren, sich vorstellen, Carine zu sein."

Dass ihr Name eine Marke werden könnte, darauf habe sie ihr Sohn Vladimir gebracht, erzählt sie. Auf seinen Rat hin vermarktet sie sich mit ihrer neuen Parfümlinie nun gewissermaßen selbst. Und spielt dabei mit ihrem Image der Femme fatale. Ihre sieben Parfüms hat sie nach sieben Lovern benannt. Fiktiven, wohlgemerkt.

Gerade erst hat Carine Roitfeld ihr Parfum (benannt nach sieben fiktiven "Lovern", von "Aurelien" bis "Vladimir") herausgebracht.
Foto: Carine Roitfeld

Dennoch füttert sie damit das Bild der männerfressenden Amazone. Dabei war sie 30 Jahre lang mit dem gleichen Mann liiert: Christian Restoin, dem Vater ihrer zwei Kinder Julia und Vladimir. Seit einiger Zeit sei sie wieder Single. "Ich bin furchtlos, aber ich habe Respekt vor den Menschen, mit denen ich arbeite. Auch wenn ich ein Mädchen nackt fotografiert habe, hätte ich sie nie als bemitleidenswertes Ding gezeigt, dem man gerade alle ihre Sachen geklaut hat. Im Gegenteil, sie ist nackt und stolz darauf, trägt hohe Schuhe und eine Zigarette in der Hand. Man muss kein Mitleid mit ihr haben. Meine Frauen sind keine Accessoires, keine Opfer, sondern starke Frauen."

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Roitfeld am 3. Juni bei den CFDA Fashion Awards in New York.
Foto: apa/afp/getty images/dimitrios kambouris

Politisch inkorrekt

Dennoch wäre heute vieles undenkbar, was Roitfeld in den 80er-Jahren machte. Zu wenig politically correct in Zeiten von #MeToo. Eine Entwicklung, die Madame Roitfeld gar nicht gefällt. "Wir leben in einer fast schon puritanischen Welt. Für mich geht das ein bisschen zu weit. Ich finde es traurig, wenn man sich mit der Mode nicht auch ein bisschen amüsiert."

Von Sexismus will sie jedenfalls nichts wissen. Modefotografie habe nichts mit Pornografie zu tun, findet sie. "Mode ist suggestiv. Mit ihr will man verführen. Wenn das Dekolleté zu tief sitzt oder der Rock zu kurz ist – ist das sexistisch oder will man einfach nur gefallen? Wo Verführung aufhört, ist heutzutage zu einer komplizierten Frage geworden."

Carine Roitfeld ist keine, die sich feministische Slogans an die Brust heften würde. Und das Wort Feministin gefällt ihr auch nicht besonders. Was natürlich nicht bedeutet, dass sie gegen Geschlechtergleichheit ist. "Mehr Frauen in Führungspositionen zu haben, das halte ich für richtig," sagt sie. Nur möchte sie dafür nicht mit harten Mitteln kämpfen: "Quoten finde ich erniedrigend. Frauen sind ebenso brillant wie Männer, das wird sich ganz von alleine ergeben."

Dass jemand wie Queen Roitfeld für ihren Siegeszug keine Hilfe braucht, versteht sich von selbst. (Estelle Marandon, RONDO, 8.6.2019)