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Jeremy Corbyn in der Zwickmühle.

Foto: REUTERS/Toby Melville -/File Photo

9,1 Prozent – diesen Wähleranteil konnte die konservative Partei von Theresa May bei den Wahlen zum EU-Parlament in Großbritannien vergangene Woche von ihrem Kurs überzeugen. Das gebrochene Versprechen, am 29. März 2019 aus der EU auszutreten, wie dies bei einem Referendum von der Mehrheit der Briten gefordert worden war, kostete die Großpartei 14,8 Prozentpunkte – sogar die Grünen überholten die Tories bei der Wahl vergangene Woche. Die meisten Stimmen verloren die Konservativen an die neugegründete Brexit-Partei, die auf Anhieb 31,6 Prozent der Stimmen für sich gewinnen konnte.

Verglichen damit scheint Labour auf den ersten Blick mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Die Arbeiterpartei unter der Führung von Jeremy Corbyn erhielt 14,1 Prozent der Stimmen, ein Minus von 11,3 Prozentpunkten. Doch der Eindruck täuscht.

Tories vor Kurswechsel

Denn die Tories stehen vor einem Führungswechsel. Mit einem harten Brexit-Kurs könnte Mays Nachfolger viele der Stimmen, die bei der Europawahl an die Brexit-Partei gegangen sind, wieder zurückholen.

Labour hingegen steht vor einer Zerreißprobe. Die Partei sucht noch immer eine Linie zum Brexit. Obwohl Umfragen zufolge 70 Prozent ihrer traditionellen Wähler EU-Befürworter sind, gibt es eine bedeutende Minderheit – rund 30 Prozent –, die bei der Volksabstimmung 2016 für den EU-Austritt gestimmt hat. Die Brexit-Befürworter in der Labour-Partei kommen zu einem guten Teil aus klassischen Arbeitergegenden – aktuelle und ehemalige Hochburgen der Partei. Entsprechend mehr Gewicht gab man ihnen bisher in der Partei.

Verwirrende Parteilinie

Das Resultat dieser Spaltung ist die verwirrende Parteilinie in Bezug auf den EU-Austritt: Auf ihrem letzten Parteitag beschloss Labour, dass es zu Neuwahlen kommen soll, wenn das Parlament Mays Austrittsdeal ablehnt oder die Gespräche ohne Austrittsdeal enden. Falls Neuwahlen jedoch nicht erzwungen werden können, machte der Parteitag klar, dass "alle verbliebenen Optionen auf dem Tisch liegen, einschließlich einer Kampagne für ein zweites Referendum".

Man versuchte es beiden Lagern recht zu machen – glücklich machte das niemanden. Der Versuch der Partei, sowohl Brexit-Befürworter als auch Brexit-Gegner bei der Stange zu halten, hat bei den EU-Wahlen schließlich zu Verlusten in beiden Lagern geführt. Die stärksten Verluste fuhr die Labour-Partei in Gegenden ein, die für den Verbleib in der EU gestimmt haben, aber auch in Pro-Brexit-Regionen verlor sie Stimmen.

Und der Konflikt wird inzwischen öffentlich ausgetragen: Diane Abbott, Schattenministerin für Inneres, sprach sich nach der verlorenen EU-Wahl bereits öffentlich für ein zweites Referendum aus. Doch Labour-Abgeordnete, die aus Wahlkreisen kommen, die mehrheitlich für den Brexit gestimmt haben, warnen davor.

Remain-Arithmetik

Letztlich stellen aber die EU-Befürworter den größten Anteil an Labour-Wählern. Die Ergebnisse der EU-Parlamentswahl bestätigen nur, was Umfragen schon vorhergesagt haben: Der Versuch von Labour, beide Wählerschichten zufriedenzustellen, hat beide Wählergruppen enttäuscht.

Je länger Labour versucht, sowohl Brexit-Befürworter als auch -Gegner in der Partei zufriedenzustellen, desto größer ist die Gefahr, dass beide Wählergruppen dauerhaft zu anderen Parteien wechseln. Arithmetisch scheint die Sache klar: Für jeden Wähler, der von Labour zur Brexit-Partei wechselte, wechselten drei Labour-Wähler zu den Liberaldemokraten oder den Grünen. (Stefan Binder, 28.5.2019)