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PRO: Raus aus dem Hinterzimmer

von Thomas Mayer

Wer jetzt gegen das "Modell Spitzenkandidaten" ist, der macht sich für das bisherige "Modell Hinterzimmerpolitik" der nationalen Regierungschefs stark. Daran besteht gerade nach diesem Wahlsonntag kein Zweifel. Die Wahlbeteiligung war so stark wie nie, seit die Union 2004 sprunghaft auf eine halbe Milliarde Menschen anwuchs.

Und diese Wähler haben auf eine erfrischende Weise gezeigt, wie gut neue Ideen einer Wahlbewegung tun. Es gibt eine unübersehbare Demokratisierung. Die "ewige" Dominanz von Schwarz-Rot ist gebrochen. Die konstruktiven politischen Lager von Liberalen und Grünen wurden politisch gestärkt. Die Spitzenkandidaten der Parteienfamilien bzw. das liberale Spitzenteam haben dazu viel beigetragen. Sie kämpften quer durch Europa um Stimmen, stellten sich den Bürgern. Die Themen und Wahlprogramme der nationalen Parteien wurden zusammengeschaltet.

Europa bewegt sich. Natürlich ist das Wahlsystem (noch) nicht perfekt. Es muss die erste Tat der neuen Kommission sein, dem neuen EU-Parlament ein echtes EU-Wahlrecht vorzuschlagen – inklusive transnationaler Wahllisten für gemeinsame Spitzenkandidaten. Die uralten intransparenten Deals von Macron, Merkel & Co braucht niemand mehr.

Daher: Manfred Weber, Frans Timmermans, Margrethe Vestager oder Ska Keller müssen Kommissionspräsident/in werden, wenn sie eine tragfähige Koalition finden. (Thomas Mayer, 28.5.2019)

KONTRA: Keiner hat ein Mandat

von Eric Frey

Mit dem Prinzip der Spitzenkandidaten für die Europawahl, die bei einem Sieg ihrer Fraktion Kommissionspräsident werden, wollte das EU-Parlament mehr demokratische Legitimität in die EU-Politik bringen. Dieser Versuch ist gescheitert. Denn weder 2014 noch heuer war die Person des Spitzenkandidaten ein Wählermotiv, für die eine oder andere Partei zu stimmen.

Auch vor fünf Jahren war es nicht der Erfolg der Europäischen Volkspartei, die Jean-Claude Juncker für die Führung der Kommission qualifizierte. Die EVP erhielt sogar weniger Stimmen als die Sozialdemokraten und wurde nur dank des Wahlsystems zur größten Fraktion. Aber Juncker war ein erfahrener Regierungschef mit Persönlichkeit.

Diesmal ist das anders. Manfred Weber ist ein farbloser Parlamentarier ohne Regierungserfahrung. Dass die EVP trotz Verlusten die stärkste Fraktion im neuen Parlament bleibt, gibt ihm kein demokratisches Mandat. Der Sozialdemokrat Frans Timmermans oder die Liberale Margrethe Vestager wären besser geeignet – nicht weil sie Spitzenkandidaten waren, sondern weil sie gute Kommissare sind.

Die Staats- und Regierungschefs sollten bei ihrer Suche beide in Erwägung ziehen, sich aber nicht auf Spitzenkandidaten beschränken. Und durch die Fragmentierung des EU-Parlaments wird es in Zukunft noch weniger klare Wahlsieger mit Anrecht auf den Posten geben. Mehr Demokratie würde eine Direktwahl des Kommissionschefs bringen. Doch dafür müsste man erst die EU-Verträge ändern.(Eric Frey, 28.5.2019)