Ohne redaktionelle Medien gäbe es kein Ibiza-Gate, so der Kommunikationswissenschafter Josef Trappel im Gastkommentar.

Wie jeden Abend begibt sich Nachtwächter Christoph Meili (29) auf seinen Rundgang. Im Keller der Bank fallen ihm Aktenstapel auf, die für den Schredder vorbereitet sind. Er nimmt einzelne Akten an sich. Genau weiß er nicht, was er da tut. Zu Hause merkt er, es geht um nachrichtenlose Vermögen aus dem Zweiten Weltkrieg. Er übergibt die Akten an eine jüdische Organisation in der Schweiz. Die Großbanken UBS und CS vergleichen sich Jahre später für den Betrag von 1,25 Milliarden US-Dollar vor Gericht, verlieren nachhaltig Kunden, Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Der junge und unbedarfte Nachtwächter wird angeklagt, erhält in den USA Asyl und kehrt erst zehn Jahre später, 2009, in seine Schweizer Heimat zurück.

Ganz anders Julian Assange: Übermütig und lebenslustig nutzt der Whistleblower aus Australien sein IT-Know-how und seine Beziehungen, um systematisch, mit Vorsatz und System dunkle Machenschaften aufzudecken. Seit 2006 bedroht Wikileaks global Schwarzgeldschieber und all jene, die der Schweizer Soziologe Jean Ziegler gemeinhin als "neoliberale Halunken" und "Bankenbanditen" bezeichnet. Assange verbrachte sieben Jahre im Londoner Botschaftsgebäude, ehe ihn Ecuador im April 2019 fallenließ. Heute sitzt er in U-Haft.

Julian Assange sieht der Auslieferung an die USA entgegen. Die Justizbehörden haben die Anklage gegen ihn erheblich verschärft, was als ein Angriff der USA auf die Pressefreiheit gedeutet wird. Donnerstag findet in London die zweite Anhörung statt.
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Chelsea Manning büßt schwer für die illegale Weitergabe von belastendem Material aus der US-Armee. Sie hat sieben Jahre Gefängnis hinter sich. Die Justiz hat sie gerade wieder in Beugehaft genommen. Edward Snowden machte sensible Dokumente der NSA publik, flüchtete nach Russland, wo er seit 2013 lebt und sich dem Zugriff der US-Justiz entzieht. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Am 17. Mai 2019 stellen die "Süddeutsche Zeitung" (SZ) und der "Spiegel" ein Video online, das den damaligen Vizekanzler der Republik Österreich kompromittiert. Er tritt daraufhin von allen seinen politischen Ämtern zurück. Das Video löst eine Kettenreaktion und die größte Regierungskrise der Zweiten Republik aus.

Das Schicksal derjenigen, die in der Vergangenheit solche Ungeheuerlichkeiten aufgedeckt haben, lädt die Urheber des Ibiza-Videos nicht gerade dazu ein, sich zu outen.

Hohes Whistleblower-Risiko

Diese Beispiele werfen ein verheerendes Licht auf den Umgang vermeintlich stabiler und vorbildlicher Demokratien mit Whistleblowing. Stellen wir uns für einen Moment vor, alle diese Vorkommnisse wären aus Angst vor den Konsequenzen nie veröffentlicht worden. Die UBS in der Schweiz hätte belastende Unterlagen vernichtet, die betroffenen Familien von Holocaust-Opfern wären nie entschädigt worden. Das internationale Finanzkapital würde hemmungslos sein Schwarzgeld in Steuerparadiesen reinwaschen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. In Österreich würden weiterhin Politiker die zentralen Hebel der Macht bedienen, die pubertäre Korruptions- und Allmachtsfantasien plagen. Das können die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger einer lebendigen Demokratie nicht wollen.

Auf gut Österreichisch haftet dem Whistleblowing der schale Geschmack des "Vernaderns" an: "So etwas tut man Kollegen nicht an." "Das regeln wir intern." Was im Kleinen bestimmt die bessere Lösung ist, lässt sich nicht skalieren und eignet sich keineswegs für größere Verfehlungen. Ein demokratisches Staatswesen tut gut daran, rechtlich Vorsorge zu treffen, damit Menschen den Mut aufbringen können, öffentlich Missstände anzuprangern. Drohen jahrelange Haft oder Asyl, dann ist die Barriere für viele Personen viel zu hoch.

Quellenschutz im Rechtsstaat

Ist die Last für Einzelne zu groß, müssen Institutionen einspringen. Den eingangs genannten Beispielen ist gemeinsam, dass große Massenmedien die Fälle veröffentlicht haben. Das Redaktionsgeheimnis schützt in demokratischen Rechtsstaaten die Urheber davor, in die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. SZ und Spiegel müssen nicht befürchten, ihre Quelle – selbst wenn sie wüssten, wer ihnen die Ibiza-Videos übergeben hat – preisgeben zu müssen. Sind Personen des öffentlichen Interesses betroffen, so wiegt in der Rechtsprechung das Interesse der Allgemeinheit mehr als der sonst legitime Anspruch auf Persönlichkeitsschutz der Betroffenen.

Diese rechtliche Konstruktion nimmt die Last von den Schultern einzelner Whistleblower. Gehen diese nicht so naiv vor wie Wachmann Meili, der sich einer zivilen Organisation anvertraute und nicht einem Medium mit Redaktionsgeheimnis, dann besteht Quellenschutz. Diesen können aber nur Redaktionen in Anspruch nehmen – nicht jedoch technische Plattformen wie Youtube oder Facebook, die sich bekanntlich weigern, als Massenmedien anerkannt zu werden. Wäre das Ibiza-Video nur auf Youtube veröffentlicht worden, hätte die Strafverfolgung ganz andere Mittel zur Verfügung. Ohne redaktionelle Massenmedien greift der Quellenschutz nicht, der für demokratische Gesellschaften so wichtig ist. Hinzu kommt, dass auf den (para)sozialen Plattformen wie Youtube und Facebook das Ibiza-Video zwischen zahllosen gefakten oder Spaßvideos aufgetaucht wäre, für deren Authentizität niemand geradesteht.

Nun ließe sich ins Treffen führen, dass es gar keiner Whistleblower bedürfte, würden Redaktionen ihren investigativen Auftrag anständig ausführen. Das ist insofern richtig, als Journalistinnen und Journalisten ja immer eine Anlaufstelle sind, wenn sich Informantinnen und Informanten erleichtern wollen. Doch die letzten beiden Jahrzehnte haben die redaktionellen Massenmedien ökonomisch enorm geschwächt. Investigativer Journalismus erfordert Zeit, gut ausgebildetes Personal und vor allem finanzielle Ressourcen. Auch für den Fall, dass einmal ein Rechercheergebnis vor dem Richter landet. Wichtigste Ursache für den ökonomischen Aderlass ist der Abfluss von Werbegeld weg von den Medien, hin zu den digitalen Plattformen.

Ökonomie spielt Halunken in die Hände

In den vergangenen Jahren haben sich redaktionelle Medien zu Netzwerken zusammengeschlossen, um geleaktes Material auszuwerten und dann gemeinsam zu veröffentlichen. Ein Beispiel sind die Panama Papers. Auch wenn damit der Wettbewerb zwischen den Medien beeinträchtigt wird, im Ergebnis sind demokratische Staaten gut bedient.

Eigene investigative Redaktionsarbeit und das Prüfen, Verifizieren und Auswerten von zugespieltem Material brauchen auch eine aufrechte und entschlossene Hierarchiekette von den Journalistinnen und Journalisten über die Chefredaktion bis zu den Eigentümern. Hätte es noch eines Beweises bedurft, so zeigen die Ausfälligkeit Heinz-Christian Straches gegenüber der "Kronen Zeitung" und die Fantasie der Übernahme der größten Zeitung des Landes durch die fiktive Oligarchin, wie bedeutsam die Eigentümerstruktur weiterhin ist. Die Krone ist gut beraten, endlich und möglichst rasch die Hängepartie zwischen den Anteilseignern zu bereinigen. Strache hat der "Krone" den Hammer unmissverständlich ins Fenster gehängt.

Redaktionen schützen, ohne Wenn und Aber

Redaktionelle Medien, die seit Jahren an Reichweite und Auflage verlieren, sind aus dieser Perspektive ein zentrales, ja unverzichtbares Element einer lebendigen Demokratie. Nichts käme den "Halunken" (Jean Ziegler) gelegener, als diese unabhängigen Institutionen zu schwächen oder gar zu zerstören. Aktuell spielt ihnen die Ökonomie leider in die Hände. Schwer zu begreifen sind daher die Säumnis des Bundesministers Gernot Blümel bei der Reform der Medien- beziehungsweise Presseförderung und sein Zögern bei der Verteidigung der Gebührenfinanzierung des ORF. Redaktionelle Medien bedürfen der politischen, aber auch der wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Deren Absicherung ist eine vornehme und eminent demokratiepolitische Aufgabe. Jetzt erst recht. (Josef Trappel, 29.5.2019)