Hans Kelsen gilt als Architekt der österreichischen Verfassung.

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Dass Bundespräsident Alexander Van der Bellen eine derart wichtige Rolle ausübt, hat er Artikel 70 zu verdanken. Er kommt zum ersten Mal zur Anwendung.

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Einer der Merksätze, die schon in der Schule gelehrt werden.

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Es hat fast ein Jahrhundert gedauert, bis die österreichische Verfassung einem demokratischen Stresstest unterzogen wurde. Nach Ibiza-Gate und dem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen Sebastian Kurz hat sie diesen auch bestanden. Nicht nur Bundespräsident Alexander Van der Bellen lobte die Schönheit und Eleganz der Verfassung, auch sonst nüchterne Juristen geraten beim Bundesverfassungsgesetz ins Schwärmen.

Dabei war die Verfassung nur als Provisorium gedacht. Verfasser Hans Kelsen und Staatskanzler Karl Renner hatten "Zweifel, ob die junge Republik von Dauer sein wird", erklärt Rechtshistoriker Thomas Olechowski. Beide plädierten für eine Vereinigung mit dem Deutschen Reich, allerdings nicht aus faschistischer Überzeugung, sondern weil sie glaubten, dass sich Österreich nach dem Zusammenbruch der Monarchie einer größeren Einheit anschließen müsse.

Eine der ältesten Verfassungen Europas

Obwohl sie nicht auf Dauer angelegt war, gilt die Verfassung als eine der ältesten Europas. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg entschlossen sich die meisten europäischen Staaten, ihr Fundament neu zu begründen. Anders in Österreich, hier wollte man sich 1945 bewusst eine Diskussion ersparen, um Einheit zu beschwören. So griff man auf die Kelsen-Verfassung zurück, die 1929 novelliert worden war.

Die Bestimmungen, die im Zuge der Regierungskrise und des Misstrauensvotums zum Zug kommen, sind in den Artikeln 69 und folgend geregelt. Der Artikel 71 beschreibt die einstweilige Bundesregierung, Artikel 74 das Vorgehen nach einem Misstrauensvotum.

"Spielregeln für die Politik"

Hier kommt die Besonderheit der Verfassung zum Ausdruck: "Sie hat starken Regelcharakter", wie es Clemens Jabloner, Kenner der Verfassung und früherer Präsident des Verwaltungsgerichtshofs, beschreibt. Es sind "Spielregeln für die Politik, in einem nüchternen und klaren Stil verfasst", ergänzt Olechowski. Diese haben schließlich das Staatsoberhaupt durch ein organisatorisches und institutionelles Labyrinth geleitet.

Dass Van der Bellen dazu überhaupt in der Lage war, ist der Novelle aus dem Jahr 1929 zu verdanken. Damals wurde die Rolle des Bundespräsidenten aufgewertet. Zuvor wurde die Regierung vom Nationalrat gewählt und entlassen. Der Artikel 70 war aber nicht unumstritten. Scharfer Kritiker dieser Änderung war niemand Geringerer als Kelsen selbst. Die Befugnisse, über die Van der Bellen nun verfügt, stammen aus der Feder von Ludwig Adamovich senior, der später auch Verfassungsgerichtshofpräsident war. Genauso übrigens wie sein Sohn Ludwig Adamovich junior, der heute 86-Jährige ist Berater des Präsidenten in verfassungsrechtlichen Fragen.

Schnörkelos und unvollständig

Die schnörkellose Ausgestaltung der Verfassung ist auf die schwierige politische Lage nach der Ausrufung der Ersten Republik 1919 zurückzuführen. Die unterschiedlichen Parteien konnten sich nicht auf eine Formulierung für die Grund- und Menschenrechte einigen. "Die Verfassung war von Anfang an ein Torso", sagt Olechowski. Weil kein Kompromiss gefunden wurde, griff man auf das Staatsgrundgesetz von 1867 zurück, in dem die Glaubens- und die Pressefreiheit geregelt waren – das gilt bis heute. Überhaupt enthält die Verfassung weder eine Präambel noch Wertungen oder Phrasen. Auch heute ist sie "unvollständig", wie es Olechowski nennt. Denn Verfassungsbestimmungen befinden sich in anderen Gesetzen. Dafür pochte Kelsen auf die Verfassungsgerichtsbarkeit. "Es war innovativ", erklärt Jabloner, "dass jedes Gesetz auf seine Verfassungskonformität überprüft werden muss."

Wie lange es dauern darf, bis Van der Bellen einen neuen Kanzler gefunden hat, ist nicht festgeschrieben. Laut Jabloner ist das durchaus vernünftig, denn so hat die Verfassung "genaue Regeln, ist aber flexibel genug für notwendigen Spielraum". Denn: "Einen Kanzler hat der Präsident ja wirklich nicht immer in der Tasche." (Marie-Theres Egyed, 29.5.2019)