Bushati: "Es gibt keinen Plan B."

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STANDARD: Wann erwarten Sie, dass die nun von der Kommission empfohlenen EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien beginnen können?

Bushati: Es wäre gut, wenn das möglichst früh geschieht, weil es dann auch mehr Druck auf den Demokratisierungsprozess gibt. Es gibt keine Alternative zum EU-Beitrittsprozess für Albanien und den gesamten westlichen Balkan. Überhaupt sprechen wir ja nur von dem Beginn von Verhandlungen und nicht von der Mitgliedschaft. Die Verhandlungen werden eine Herausforderung sein und auch wehtun. Aber sie sind eine Win-win-Situation für die EU und für Albanien.

STANDARD: Frankreich und die Niederlande wollen überhaupt keine Erweiterung mehr und drohen nun, ein Veto gegen den Beginn von Beitrittsverhandlungen – sowohl gegenüber Albanien als auch gegenüber Nordmazedonien – einzulegen. Was würde es bedeuten, wenn es im Juni beim EU-Gipfel kein grünes Licht für den Beginn von Verhandlungen gibt?

Bushati: Das wäre ein sehr schlechtes Signal für die EU, aber auch für die Region. Wir haben uns im Jahr 2018 auf diesen Zeitplan geeinigt. Wir haben begonnen, die Vereinbarkeit unserer Gesetzgebung mit jener der EU zu vergleichen. Der EU-Beitrittsprozess ist ein Hoffnungsschimmer. Aber die EU konkurriert auch mit anderen geopolitischen Spielern. Wenn vier der sechs Westbalkanstaaten am Verhandlungstisch mit der EU sitzen würden, könnte der bisherige Hinterhof der EU zu einem Eingangstor der EU werden.

STANDARD: Würde das auch die Glaubwürdigkeit der Politik der Konditionalität der EU untergraben, wenn man trotz der Einhaltung der Bedingungen seitens der Staaten die von der EU gegebenen Versprechungen nicht mehr erfüllt? Würde das bedeuten, dass es gar keine Erweiterung mehr gibt?

Bushati: Ich kann die Sorgen von Frankreich bis zu einem gewissen Grad verstehen, weil es Frankreich zuallererst um die internen Reformen der EU geht. Aber wir wollen ja nicht jetzt und sofort der EU beitreten. Wir können die Demokratie, die Wirtschaft und die sozialen Bedingungen im Land nur verbessern, wenn es eine greifbare europäische Perspektive gibt. In fünf oder zehn Jahren könnten wir dann bereit sein, der EU beizutreten, und ich hoffe, dass dann auch der gesamte Reformprozess innerhalb der EU beendet werden könnte.

STANDARD: Die Entscheidung der EU-Staaten könnte auch von der Lösung der innenpolitischen Krise in Albanien beeinflusst werden. Die Opposition hat ja das Parlament verlassen, und es gibt wöchentlich Demonstrationen. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass man die innenpolitische Situation entspannt?

Bushati: In der Vergangenheit haben alle politischen Parteien auf den Parlamentsboykott als ein Druckmittel gegen die Regierung zurückgegriffen. Aber eigentlich war das nie ein effektives Mittel. Wir haben jetzt eine legale Opposition, die im Parlament sitzen sollte, und jene auf der Straße. Und wir müssen beide Realitäten anerkennen, aber natürlich die Rechtsstaatlichkeit wahren. Leider geht es auf dem Balkan oft um das Besiegen des politischen Gegners und nicht um Kompromisse.

STANDARD: Denken Sie, dass es Albanien in der Frage der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen geschadet hat, dass Premierminister Edi Rama die Idee eines Gebietstauschs zwischen dem Kosovo und Serbien unterstützt hat?

Bushati: Der Balkan ist durch verschiedene Phasen gegangen, es gab Kriege und inter-ethnische Konflikte, dann hatten wir das Dayton-Abkommen, die Kosovo-Intervention durch die Nato, man war im Krisenmanagement-Modus. Doch danach haben wir hier europäische Methoden und Prinzipien kennengelernt, weil sich die EU engagierte und auch aufgrund der regionalen Kooperation. Doch in den letzten beiden Jahren, insbesondere im Vorjahr, wurden uns hier sogenannte "Zauberlösungen" aus dem 19. Jahrhundert für die Lösung von Herausforderungen des 21. Jahrhundert angeboten. Die letzten beiden Jahrzehnte ging es um regionale Kooperation und den EU-Beitrittsprozess der Westbalkanstaaten, vor allem sollten die Bürger europäische Bürger werden, und frühere Feinde sollten sich in gute Nachbarn verwandeln, indem man versuchte, all diese Streitigkeiten zu lösen. Doch die Tatsache, dass nun dieser Gebietstausch im 21. Jahrhundert in der Mitte Europas überhaupt diskutiert wird, zeigt einen Rückschritt, eine Art "Abkürzung", bei der es zynischerweise um eine Alternative zum EU-Beitritt ging.

STANDARD: Was bedeutet diese Entwicklung für ganz Europa?

Bushati: Vor kurzem haben zehn frühere kommunistische Staaten gefeiert, dass sie vor 15 Jahren der EU beigetreten sind, das wurde als ein Zusammenkommen von Geschichte und Geografie gefeiert. Der Wiedervereinigungsprozess des Kontinents ist aber noch nicht abgeschlossen. Und mit dieser Rhetorik über Grenzänderungen auf dem Balkan haben wir nun das Gegenteil erfahren. Denn es geht bei dieser Idee darum, wie man Geschichte mittels Geografie und Kartografie neu schreibt. Es ist also eine paradoxe Situation, wenn wir auf der einen Seite diese 15-Jahr-Feier für Europa haben, aber wenn dann, anstatt selbst in diese Richtung zu gehen, sich die Hauptdiskussion auf dem Balkan darum dreht, ob man mit Geografie Geschichte schreiben kann. Sie können sich vorstellen, was das für eine Botschaft an die jüngeren Generationen auf dem Balkan ist.

STANDARD: Wurde diese Idee vom Gebietstausch deswegen jetzt aufgenommen, weil in den USA die Trump-Regierung, insbesondere Sicherheitsberater John Bolton, solche Lösungen anstrebt?

Bushati: Es ist schwer, festzustellen, wer der Vater dieser Idee ist.

STANDARD: Es ist eine sehr alte Idee, die von dem serbischen Nationalisten Dobrica Ćosić stammt.

Bushati: Ja, wir wissen, dass diese Ideen nicht von proeuropäischen, sondern von rückwärtsgewandten Kräften in Serbien kommt. Es gab nun eine schlecht gemanagte PR-Kampagne für diese Sache. Die Autoritäten in Serbien und dem Kosovo haben das zum Thema des Normalisierungsdialogs gemacht. Aber die Idee selbst wurde niemals offiziell im regionalen oder europäischen Format diskutiert. Diese Idee ist herumflottiert ...

STANDARD: ... und dahinter standen viele Lobbyisten.

Bushati: Ja, es gab viel Verwirrung. Es gibt aber einige Prozesse, die man nicht missachten kann: Es gab die Nato-Intervention im Kosovo, dann gab es den Wiener Prozess und das Ahtisaaari-Abkommen, dann kam die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, und dann kam das Urteil des Internationalen Gerichtshofs zu dieser Unabhängigkeitserklärung. Es gibt die Prinzipien der Kontaktgruppe, die Grenzänderungen ausschloss. Der Normalisierungsdialog wurde dann von der Uno zur EU transferiert. Doch jetzt gibt es Uneinigkeit durch diese Gebietstauschdebatte, was Normalisierung überhaupt bedeutet.

STANDARD: Und die Rhetorik ist seither viel schlimmer geworden. Zeitungen verwenden Hasssprache gegen die andere Volksgruppe.

Bushati: Die Rhetorik hat sich in gefährlicher Weise von den Bürgern in Richtung Territorien verlagert.

STANDARD: … und Sie mussten sogar Ihr Amt als Außenminister verlassen, weil Sie gegen den Gebietstausch waren ...

Bushati: … und es gibt keine klare Koordination zwischen den westlichen Mächten.

STANDARD: Denken Sie, dass diese Gebietstausch-Idee jetzt vom Tisch ist, nachdem die deutsche Kanzlerin Angela Merkel allein zu diesem Zwecke kürzlich in Berlin ein Treffen mit Balkanpolitikern organisiert hat? Die Idee des Gebietstauschs ist ja eng verbunden mit der Idee von Großserbien und Großalbanien, und bestimmte Politiker in der Region hören ja nicht auf damit, diese Ideen weiter zu lancieren.

Bushati: Es gibt noch immer einen großen Graben zwischen den beiden Seiten – Kosovo und Serbien – in der Frage, was Normalisierung wirklich bedeutet. Jedenfalls sollte die Normalisierung nicht zu einer neuen Situation vor Ort führen. Normalisierung bedeutet, dass man den Kontakt zwischen den Leuten erleichtert und dass man sich auf die Rechte der Bürger konzentriert, vor allem jener, die in der Grenzregion leben. Es bedeutet auch, dass man Hindernisse abbaut und dass man alle Verpflichtungen, auf die man sich bereits geeinigt hat, auch umsetzt. Die ersten Vereinbarungen gab es 2013, und seither werden sie von den Akteuren "uminterpretiert" oder "umgeschrieben", je nachdem, was ihre heimischen Agenden sind. Die Frage ist, ob es den beiden Seiten wirklich ernst ist mit dem europäischen Weg. Wenn etwa der serbische Präsident Aleksandar Vučić sagt, er würde diese Frage mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und anderen beraten, dann frage ich mich, ob er sich zu Europa bekennt. Denn das ist eine politische Frage, die in Europa gestellt werden sollte, und er kennt die Bedingungen.

STANDARD: Wie sollte sich Albanien verhalten? Schließlich gibt es hier Ambitionen, ein Großalbanien zu schaffen.

Bushati: In dieser Region wurde viel Zeit und Energie für Ideen von irgendwelchen Großstaaten verschwendet, doch am Ende brauchen wir diese Zeit und Energie für soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Es gibt keinen Plan B, der Rest sind nur politische Spielereien und Rhetorik, die manchmal mit Frustration verbunden sind.

STANDARD: Denken Sie, dass die neue Freundschaft zwischen Nordmazedonien und Griechenland als Modell dafür dienen könnte, wie Albanien die offenen Fragen mit Griechenland klären kann?

Bushati: Das ist nun eine ähnlich paradoxe Situation. Premier Edi Rama und ich waren daran beteiligt, mit dem "albanischen Faktor" dazu beizutragen, dass der mazedonische Premier Zoran Zaev einen Deal mit Griechenland schaffen konnte, und jetzt werden wir gefragt, ob das Prespa-Abkommen ein Modell für ein Abkommen zwischen Griechenland und Albanien sein könnte. Diese beiden Dinge sind nicht vergleichbar, aber ich bin sicher, dass wir eine solide Basis für ein Abkommen geschaffen haben und alles in eine Paketlösung verpackt haben.

STANDARD: Was fehlt noch?

Bushati: Es geht noch um den Kriegszustand zwischen den beiden Staaten und die Seegrenzen.

STANDARD: Kann es bald zu der Paketlösung kommen?

Bushati: Das ist ziemlich wahrscheinlich. Aber es gibt jetzt Wahlen in Griechenland. Und während dieser Wahlzeiten ist es schwierig.

STANDARD: Was sollte die neue EU-Kommission und der/die neue EU-Außenbeauftragte bezüglich der Westbalkanstaaten tun?

Bushati: Die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit sollten mit sozialem und ökonomischem Zusammenhalt verbunden werden. Denn es ist schwierig, auf dem Balkan über Rechtsstaatsreformen zu sprechen, ohne dass es eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung gibt. Wenn man sich die Zahlen der Weltbank anschaut, so wird es fünf bis sechs Jahrzehnte brauchen, bis der Westbalkan das Niveau der EU erreicht. Und dieser Unterschied wird nicht aufgeholt werden, wenn wir uns nicht zusätzliche Mittel für den Westbalkan ausleihen. Alle sechs Westbalkanstaaten zusammen sind kleiner als Rumänien, und wir stellen überhaupt keine Gefahr für die EU dar. Wir haben in der Migrationskrise und wenn es um gewaltsamen Extremismus geht, für Sicherheit gesorgt. Aber es ist jetzt schwierig, ein überzeugendes Narrativ zu schaffen, um die Integration in die EU zu unterstützen. Ich persönlich weiß, was der Unterschied ist, eines oder fünf Kapitel des Gemeinschaftsrechts zu öffnen, aber die Bauern und die Studenten können das nicht verstehen, solange sie nicht auch den Wandel im Alltag spüren. (Adelheid Wölfl, 29.5.2019)