Stellen Sie sich vor, Ihnen wird ein Narrenhut aufgesetzt, vermummte Gestalten führen Sie mit einem Strick um die Taille an einen geheimen Ort, man verspottet und beschimpft Sie, man bearbeitet Ihre Kehrseite mit einem Hobel; man steckt Ihnen Eberhauer in den Mund, setzt Ihnen Hörner auf und entfernt beides anschließend mit furchterregenden Instrumenten wie riesigen Zangen oder Sägen, man "wäscht" Sie mit widerlichen Substanzen und schert Ihnen den Bart (wenn Sie denn einen haben). Und das alles nicht etwa, weil Sie etwas ausgefressen hätten, sondern einfach nur, weil Sie ein Studium beginnen wollen. Denn am Ende wird Ihnen das Salz Ihrer zukünftigen Weisheit auf die Zunge gestreut. Ach ja, und dann müssen Sie Ihre Peiniger zum Dank großzügig zum Essen einladen. Diese unangenehme Zeremonie ist nichts anderes als ein Initiationsritus, ein Mannbarkeitsritual.

In vielen, nach außen hin mehr oder weniger abgeschlossenen Zirkeln gibt es bis heute Rituale, die als eine Voraussetzung für die vollwertige Mitgliedschaft gelten. Verschiedene Medien thematisieren sie immer wieder im Zusammenhang mit Studentenverbindungen, Eliteschulen, Militär oder Marine. Sie haben häufig den Charakter von Mutproben und sind für die Betroffenen in vielen Fällen demütigend, lächerlich machend, körperlich unangenehm oder gar schmerzhaft. Durch sie soll die Aufnahme in die jeweilige elitäre Gruppe erlebbar gemacht werden.

Der Beanus wird zur Deposition geführt, voran geht der Bursenmeister, die Studenten sind durch Masken anonymisiert. Holzschnitt von 1578.
Foto: Public Domain
Dem "ungehobelten Kerl" wird die Kehrseite bearbeitet; unter dem Tisch liegen die Hörner sowie so manches angsteinflößende Instrument.
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Zum Homo sapiens gemacht

Die eingangs geschilderten Vorgänge waren an den meisten Universitäten des Mittelalters und der frühen Neuzeit in ganz Europa üblich. Studierende und Lehrer lebten zusammen in sogenannten Bursen, also in Wohn-, Lehr- und Lerngemeinschaften, vergleichbar den heutigen Colleges im angelsächsischen Raum. Ihren Namen haben sie von der Geldbörse, einer gemeinsamen Kassa, in die alle einzahlen mussten. Bei der Aufnahme in eine Burse musste sich der Studienanfänger dem geschilderten Ritus, der überall in mehr oder weniger gleicher Form ablief, unterziehen. Er wurde übrigens als "Beanus" bezeichnet (latinisiert nach dem französischen Bec jaune), also "Gelbschnabel" – unser Ausdruck "Grünschnabel" lässt grüßen. Die Zeremonie selbst nannte man "Deposition". Dieser Begriff, der so viel wie "Niederlegung" bedeutet, leitet sich davon ab, dass dem Beanus die Hörner abgenommen wurden, wodurch er sein wie ein Tier dahinvegetierendes Dasein "ablegte" und so zum Homo sapiens wurde.

Offiziell wollten die Universitäten in der Regel mit diesem Brauch nichts zu tun haben. Im Gegenteil, die Durchführung der Deposition wurde von den zuständigen Fakultäten immer wieder ausdrücklich verboten. Das konnte im Nachhinein durchaus zu Missverständnissen führen: Anlässlich der 600-Jahr-Feier der Universität Wien im Jahr 1965 erschien eine große Publikation, in der man lesen kann, dass es in Wien so etwas nie gegeben habe, denn es sei vonseiten der Universität in regelmäßigen Abständen verboten worden. Glauben Sie das? Beweist nicht das mehrmalige Aussprechen des Verbots gerade, dass es eben nicht befolgt wurde?

Tatort

Seit einigen Jahren brauchen wir diese Schlussfolgerung aber gar nicht mehr anzustellen, denn wir haben einen unumstößlichen Beweis: Bei Restaurierungsarbeiten im November 2012 kamen Kritzeleien – Zeichnungen und Inschriften – ans Licht, die ganz eindeutig von einer Deposition stammen. Das Überraschendste ist der Ort dieses Fundes: die Valentinskapelle im Stephansdom. Derartige Zeremonien fanden in der Regel im universitären Umfeld statt, meist innerhalb der Bursengebäude. Ganz sicher aber führte man sie nicht in der bedeutendsten Kirche der Stadt aus! Auch nicht in einer Kapelle, die noch nicht fertig und daher auch nicht geweiht war. Und doch: Die Graffiti beweisen, dass man genau das tat.

Den Vorgang kann man sich folgendermaßen vorstellen: Am Abend des 5. Dezember 1479 drangen mehrere Studenten in die Valentinskapelle ein. Das war an sich schon nicht so ganz einfach, da die Kapelle nur von der Westempore aus zugänglich ist. Übrigens wäre die Assoziation mit dem Krampustag allzu verlockend, nur gab es leider diesen Brauch damals noch nicht.

Wie auch immer: Während des Tages waren die Maler am Werk gewesen und hatten Weihekreuze gepinselt; die studentischen Kritzeleien sind, wie der Restaurator herausfand, mit der gleichen Putzschicht al fresco verbunden, müssen also innerhalb der eher kurzen Zeit entstanden sein, die der Putz zum Trocknen braucht. Die Farbtöpfe der Maler standen herum; die Studenten konnten sich sehr bequem daran bedienen. Sie wählten die Farbe Rostbraun, die wunderbar zu ihren Rötelstiften passte. Damit scheinen sie sich während der Zeremonie auf der Wand verewigt zu haben. All dies verschaffte ihnen sicherlich einen ganz besonderen Kick!

Die Südwand der Valentinskapelle im Stephansdom; unter den "offiziellen" Weihekreuzen die "inoffiziellen", deutlich weniger frommen Kritzeleien (der Bestand ist durch das 1688 eingebaute größere Portal beeinträchtigt).
Foto: renate kohn
Der Beanus trägt eine Narrenmütze mit Eselsohren. Die unübliche dritte Narrenschelle zitiert das Wappen der Kisling, drei Kugeln (Kieseln; siehe folgende Abbildung). Was er da in der Hand hält, war bereits öfter Gegenstand von Diskussionen, die aber bisher ohne befriedigendes Ergebnis geblieben sind.
Foto: renate kohn

"Ich bin ein Narr"

Aber offenbar wurde ihnen das Ganze dann doch zu unsicher. Mehrere Zeilen, die mit "Hic fuit" beginnen – dieses "Hier war" steht am Anfang jedes mittelalterlichen Touristengraffito – und offenbar die Namen der Bursenangehörigen nannten, sind nachträglich unleserlich gemacht worden. Doch vieles ist noch erkennbar: das Wort Beanus, das uns beweist, dass die Kritzeleien tatsächlich von einer Deposition stammen, die Datierung und eine ziemlich krude Zeichnung eines Gesichts mit Eberhauern. Und vor allem immer wieder der Name des Studienanfängers: Jeronymus Kisling. Er wird immer wieder als Esel ("asinus") bezeichnet. Das ist ein Schimpfwort, mit dem jeder bedacht wurde, der sich nicht der gelehrten lateinischen Sprache bediente, sondern Deutsch sprach – so gesehen sind wir alle Esel. Folgerichtig findet man auf Deutsch nur den Satz: "Jch pin ein Nar". Das hat Jeronymus vielleicht selbst schreiben müssen. Der arme kleine Esel hat es im späteren Leben übrigens doch noch zu etwas gebracht: Jeronymus Kisling hat zwar nur kurz studiert, geschäftlich war er aber sehr erfolgreich, und zwar als Leiter der Wiener Niederlassung des Handels- und Bankhauses Fugger.

Auch das Wappen der Kisling bekam sein Fett ab: Die Kugeln sind gegen Schellen ausgetauscht, dazwischen sind kleine Narrenköpfchen gezeichnet. Unter dem Wappen steht: Jeronimus kiesling est azinus, darüber steht: Jch pin ain Nar.
Foto: renate kohn

Die Deposition vom 5. Dezember 1479 war sicherlich etwas ganz Besonderes. Dass sich die Beteiligten dessen bewusst waren, dass dieser Initiationsritus im Bereich der Stephans- und Allerheiligenkirche (2. Patrozinium des Stephansdoms seit 1365) ausgesprochen blasphemisch war, wird auch in einem Satz deutlich, der zweimal vorkommt: "manus beanorum maculat domus sanctorum", "Die Hand der Gelbschnäbel befleckt das Haus der Heiligen". (Renate Kohn, 31.5.2019)