Wie sich MS anfühlen kann: Angela Alves während der Fotoprobe zu "Soft Offer" im Rahmen der Tanztage Berlin in den Sophiensaelen, 17. Jänner 2019.

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Dass jemand an Multipler Sklerose (MS) erkrankt ist, kann man sehen – oder auch nicht. Zu MS gehört nämlich auch eine Reihe von Symptomen, die für Außenstehende nicht erkennbar sind. Für die betroffenen Patientinnen sind sie aber oft mindestens so belastend wie die offensichtlichen. Das Umfeld ahnt davon oft wenig bis gar nichts.

In Österreich gibt es etwa 13.500 MS-Betroffene. "Bei der Diagnose sind MS-Patientinnen meist zwischen 20 und 40 Jahre alt", erzählt Michael Auer von der Universitätsklinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Innsbruck. "Oft kommen sie mit Anzeichen eines ersten Schubes in die Notaufnahme oder zum Hausarzt und werden dann zu weiteren Untersuchungen zum Neurologen geschickt. In manchen Fällen liegen die ersten Symptome auch schon einige Jahre zurück, wurden aber nicht abgeklärt. Die Diagnose erfolgt somit erst beim zweiten Schub. Dennoch kommt sie für fast alle Betroffenen sehr plötzlich."

Verzweiflung am Anfang

Die Bandbreite der Reaktionen auf die Schreckensnachricht ist groß. Von Tränenausbrüchen bis Erleichterung ist alles dabei. Sie müssen nicht nur mit ihrer Krankheit zurechtkommen, sondern kämpfen auch immer wieder mit Stigmatisierungen, Einschränkungen im Job oder Jobverlust, finanziellen Problemen oder Unverständnis im näheren oder weiteren Umfeld.

In dieselbe Kerbe schlägt Marlene Schmid, Patientenbeirätin bei der Multiple-Sklerose-Gesellschaft Tirol. "MS ist die Krankheit der tausend Gesichter. Die Verläufe sind sehr unterschiedlich. Wir unterstützen unsere Patientinnen und Patienten dabei, die Krankheit anzunehmen und als Teil ihres Lebens zu betrachten, egal was kommt."

Gerade zu Beginn hätten Patientinnen und Patienten oft Angst vor einem neuen Schub, zum Beispiel wenn vorübergehend der Arm einschläft, berichtet Auer. Oft könne er aber Entwarnung geben. "Fast alle Patientinnen und Patienten lernen mit der Zeit sehr gut mit der Krankheit umzugehen."

Akzeptieren lernen

"Das Leben mit MS ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Balanceakt", weiß Jörg Kraus, Neurologe aus Zell am See und Präsident der Österreichischen Multiple-Sklerose-Gesellschaft. Es gibt auch viele unsichtbare Symptome wie Fatigue, Harninkontinenz oder sexuelle Funktionsstörungen. "Die meisten Leute verbinden mit MS Einschränkungen beim Gehen bis hin zur Lähmung, aber an diese Symptome denkt kaum jemand. Dabei sind sie für die Betroffenen extrem belastend. Daher ist es wichtig, auch darüber aufzuklären. Wenn das familiäre und, falls möglich, auch das berufliche Umfeld Bescheid wissen, können sie auch viel besser reagieren und unterstützen", betont Kraus.

Helfen können offene Gespräche – sowohl mit Neurologen und Neurologinnen als auch mit Patientenorganisationen wie zum Beispiel der Multiple-Sklerose-Gesellschaft. Die gute Nachricht: Für fast alle Symptome gibt es gute Behandlungsstrategien.

Was ist Hidden MS

Unter Hidden MS werden Symptome zusammengefasst, die mit MS in Zusammenhang stehen, aber nach außen hin nicht sichtbar sind, und für die es häufig keinen einfachen diagnostischen Test gibt. Ein besonders häufiges ist Fatigue. "Darunter versteht man die vorzeitige körperliche oder geistige Ermüdbarkeit, die meist im Tagesverlauf und bei höheren Temperaturen zunimmt", erklärt Rainer Ehling vom Reha-Zentrum Münster in Tirol und Vorstandsmitglied der Multiple-Sklerose-Gesellschaft. "Sie kann auch früh im Krankheitsverlauf unabhängig von einem Krankheitsschub vorkommen und hat negative Auswirkungen auf die Arbeits- und Leistungsfähigkeit von Menschen mit MS."

Andere versteckte Symptome sind Gleichgewichtsstörungen, Sehbeeinträchtigungen, Blasen- und Mastdarmfunktionsstörungen, Gefühlsstörungen, Konzentrationsstörungen oder auch Sexualfunktionsstörungen. "All diese Symptome können zu großen Verunsicherungen führen, nicht nur beim Betroffenen selbst, sondern auch beim Umfeld", so Ehling.

Symptome werden oft falsch gedeutet

MS kann sich auf viele Arten manifestieren, etwa als Lähmungserscheinungen oder Empfindungs- und Gleichgewichtsstörungen. Wer schwankt, hat nicht selten mit unangenehmen Reaktionen der Mitmenschen zu rechnen. Auch von dem Gefühl, dass die Haut in Flammen steht, berichten Betroffene. Und die Blase lässt immer wieder aus. Symptome, die man vor allem bei Frau mit Mitte 20 nicht vermuten würde. Nicht selten berichten Betroffene auch von Depressionen oder Schlafstörungen. Viele MS-Kranke trauen sich nicht, ihre Arbeitgeber zu informieren – aus Angst, den Job zu verlieren.

"In den meisten Fällen können wir helfen, sowohl mit nichtmedikamentösen Maßnahmen als auch mit Medikamenten", betont Neurologe Ehling. "Voraussetzung dafür ist das offene Gespräch mit den Patientinnen und Patienten. Das ist nicht immer einfach. Gerade bei Themen wie Blasenschwäche oder Sexualfunktionsstörungen muss besonders behutsam vorgegangen werden. Oft hilft aber schon allein das Gespräch."

Kühljacken verwenden

Manchmal sind es aber auch ganz praktische Maßnahmen, die zu einer besseren Lebensqualität beitragen können. "Es gibt zum Beispiel Kühljacken, die gut helfen, wenn jemand unter einer sehr temperaturabhängigen Fatigue leidet. Die Jacke hilft, den Körper abzukühlen und damit die Nervenzellmembran zu stabilisieren. Dies führt in der Folge zu einer besseren Leistungsfähigkeit."

Andere Maßnahmen, die bei Fatigue helfen und für die es solide wissenschaftliche Daten gibt, sind ein regelmäßiges Ausdauertraining über einen längeren Zeitraum hinweg und ein vernünftiges Zeitmanagement, auch Sport scheint eine positive Wirkung zu haben.

"Reden muss man auch mit dem Umfeld", betont Patientenbeirätin Schmid. "Die Angehörigen können ja nicht Gedanken lesen." Die Situation sei jedenfalls auch für die Familie und die Freunde nicht einfach. Deswegen bieten alle Landesstellen Beratung und Unterstützung auch für Angehörige an. "Da geht es auch darum, mit Selbstvorwürfen aufzuräumen." Denn niemand könne etwas für die Krankheit – weder die Betroffenen noch ihre Verwandten. (red, 30.5.2019)