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Leukämien werden von kranken Blutzellen verursacht. Sie schwimmen im Blut und lassen sich medikamentös leicht einfangen. Die neueste Hoffnung: CAR-T-Zellen. Das sind körpereigene Zellen, die im Labor gegen Krebs scharf gemacht werden.

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STANDARD: Krebs entsteht aufgrund einer Kette von genetischen Fehlern im Körper. Normalerweise wachen besonders die T-Zellen des Immunsystems darüber, dass Krebszellen rechtzeitig erkannt und zerstört werden. Doch manchmal gelingt das nicht, und ein Tumor entsteht. Das sollen CAR-T-Zellen ändern. Können Sie das Prinzip kurz erklären?

Germeroth: Die Idee ist im Grunde genommen einfach: Wir verändern T-Zellen, damit sie die Krebszellen wieder direkt angreifen können. Konkret geht es uns um die Entwicklung eines künstlichen Rezeptors, der es den T-Lymphozyten ermöglicht, den Tumor zu attackieren. Diese CAR-T-Zellen können wir aus dem Blut eines Patienten erzeugen, und wie sich herausstellt, ist diese Strategie bei bestimmten Formen von Blutkrebs sehr vielversprechend.

STANDARD: Was genau sind also CAR-T-Zellen?

Germeroth: CAR steht für chimärer Antigen-Rezeptor. Wir kombinieren gentechnische Bausteine aus zwei natürlichen Proteinen. Der äußerer Teil dieses Rezeptors ist von einem Antikörper hergeleitet, der die Tumorzelle erkennt und so zusammen mit dem inneren Teil der vom T-Zell-Rezeptor stammt, einen Anti-Tumor-Effekt erzeugt. Aus biomolekularer Sicht haben wir also die antikörperabhängige und die zelluläre Immunantwort miteinander verbunden.

STANDARD: Es ist also eine Kombination von Eigenschaften, die normalerweise auf unterschiedliche Bereiche des Immunsystems verteilt sind, oder?

Germeroth: Genau. Es ist für mich als Biochemiker immer noch erstaunlich, dass das dann tatsächlich in der Natur auch funktioniert und diese künstlich erzeugte Zelle Krebs nachhaltig zerstören kann. Zumindest gibt es einige Patienten, bei denen das wirklich gelungen ist. Sie waren todkrank, sämtliche Therapien waren ausgeschöpft – und sie leben nach einer CAR-T-Zellen-Therapie schon seit mehreren Jahren.

STANDARD: Tatsächlich funktioniert es heute nur bei ein paar hämatologischen Erkrankungen, etwa bei einer Form des Lymphoms (DLBCL), bei chronisch lymphatischer Leukämie (CLL) und bei akuter lymphoblastischer Leukämie (ALL) im Kindesalter. Warum funktioniert es gerade bei Blutkrebs so gut?

Germeroth: Leukämien sind sogenannte lösliche Tumore. Das heißt: Die Blutkrebszellen schwimmen im Blut und sind damit für die CAR-T-Zellen, die ja auch im Blut schwimmen, besser fassbar. Bei soliden Tumoren scheint das viel schwieriger zu sein, weil Tumoren sich abschotten können. Zusätzlich ist auch das Alter ein Faktor. Die Immunzellen werden mit den Lebensjahren schwächer. Auch das hindert sie, Krebszellen effektiv zu eliminieren.

STANDARD: Welche Therapien sind im Einsatz?

Germeroth: Es gibt derzeit zwei unterschiedliche CAR-T-Zellen-Therapien am Markt. Tisagenlecleucel gegen ALL im Kindesalter bzw. gegen das großzellige B-Zell-Lymphom (DLBCL). Und Axicabtagen-Ciloleucel gegen das großzellige B-Zell-Lymphom (DLBCL) und das primär mediastinale großzellige B-Lymphom (PMBCL).

STANDARD: Tisagenlecleucel wird als Kymriah von Novartis vermarktet, Axicabtagen-Ciloleucel als Yescarta von Gilead / Kite Pharma. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse der letzten Monate aus wissenschaftlicher Sicht?

Germeroth: Die Erfolgsraten. Kymriah funktioniert bei 47 Prozent der ALL-Patienten, auch bei DLBCL sind Heilungsraten von 40 Prozent zu verzeichnen – und zwar mit einer einmaligen Gabe.

STANDARD: Und was ist mit der gefürchteten Nebenwirkung, dem Zytokinsturm, einer Art Überreaktion des Immunsystems?

Germeroth: Dieser Zytokinsturm ist bei den klinischen Studien zu diesen Medikamenten in keinem einzigen Fall tödlich verlaufen. Das ist eine sehr wichtige Nachricht. Zudem sehen wir, dass die ersten sechs Monate nach einer CAR-T-Zellen-Therapie richtungsweisend sind. Wer in dieser Zeit vollständig tumorfrei bleibt, scheint auch langfristig gute Chancen zu haben. Denn offensichtlich ist es so, dass die CAR-T-Zellen in den ersten 20 bis 40 Tagen ihre Arbeit verrichten und den Großteil der Tumorzellen zerstören.

STANDARD: Ist das aus Ihrer Sicht Heilung?

Germeroth: Unser Erfahrungszeitraum ist noch zu kurz, um das eindeutig sagen zu können, aber bei den Patienten, bei denen die CAR-T-Zellen langfristig wirken, könnte es tatsächlich so sein.

STANDARD: Und was ist bei denen, bei denen diese Therapie nicht wirkt?

Germeroth: Rein aus wissenschaftlicher Sicht ist die entscheidende Frage, warum die Therapie bei diesen Patienten nicht funktioniert. Das Ziel ist es ja, diese personalisierte Therapie für jeden Patienten erfolgreich anzuwenden. Wir lernen aber auch von den Patienten, die leider noch nicht profitieren, weil wir Antworten auf Fragen finden, die zu Therapieversagen führen.

STANDARD: Möglicherweise könnte es auch für Patienten und Patientinnen mit multiplem Myelom eine Option werden?

Germeroth: Genau. Hier gibt es eine CAR-Zellen-Therapie von Celgene in einem sehr fortgeschrittenen Entwicklungsstadium. Im Gegensatz zu den beiden CAR-T-Zellen-Therapien am Markt erkennt es aber das B-Cell Maturation Antigen (BCMA) auf Myelomen und zeigt eine sehr gute Anti-Tumor-Wirkung – auch bei Patienten, die als "austherapiert" gelten, also die alle Therapieoptionen, die es gibt, ausgeschöpft haben.

STANDARD: Ist das Prozedere der Herstellung ebenfalls anders?

Germeroth: Aus Sicht des Patienten nicht. Wir nehmen den Kranken Blut ab, dann werden aus dem Blut die T-Zellen gewonnen und in eines der Labore von Celgene geschickt. Dort werden die T-Zellen dann genetisch manipuliert, vermehrt, wieder zurückgeschickt und den Patienten verabreicht. Klingt einfach, ist aber ein höchst aufwendiges Verfahren. Was wir anders machen: Im Vergleich zur Konkurrenz nutzen wir andere Produktionsverfahren, um CAR-T-Zellen herzustellen.

STANDARD: Inwiefern?

Germeroth: Wir nutzen nur ausgewählte Verfahrensschritte für die CAR-T-Zellen-Produktion. Es hat einige Anstrengungen gebraucht, um diese Zellen überhaupt gleichförmig produzieren zu können. Schlussendlich verwenden wir Viren als Genfähren, um die Zellen zu manipulieren. Diese Entwicklung war eine Gemeinschaftsarbeit von Celgene und Bluebird Bio. Unsere bisherigen klinischen Studienergebnisse sind sehr vielversprechend. Bei den Patienten, die diese CAR-T-Zellen-Therapie schon bekommen haben, sehen wir Ansprechraten von mehr als 90 Prozent.

STANDARD: Demnächst soll das auch für Patienten in Europa eine Option werden?

Germeroth: Wir sind gerade im Zulassungsverfahren in den USA. Danach wird zeitnah auch eine Zulassung in Europa angestrebt.

STANDARD: Und für welche Myelom-Patienten ist das eine Option?

Germeroth: Für jene, die alle bisherigen Therapieoptionen ausgeschöpft haben und trotzdem einen Rückfall hatten. Denn tatsächlich ist es ja so, dass es eine Reihe von Medikamenten gibt, mit denen sich das multiple Myelom gut in Schach halten lässt.

STANDARD: Könnte man die CAR-T-Zellen nicht schon viel früher ausprobieren?

Germeroth: Zunächst müssen neue Therapien bei Patienten angewendet werden, bei denen die Standardtherapien keine Wirkung mehr zeigen. Wir müssen erst viel genauer wissen, welche biomolekularen Merkmale ein Patient und auch das Zellprodukt aufweisen müssen, um vorherzusagen, ob diese Therapie auch tatsächlich wirkt. Es geht also darum, Biomarker zu finden – auch für die Nichtwirksamkeit. Da stehen wir erst am Anfang.

STANDARD: Und was können Sie sich langfristig mit CAR-T-Zellen vorstellen?

Germeroth: Eine dynamische Entwicklung. Sollten sich die Heilungschancen mit diesem Zellmedikament bestätigen, können Therapien zu Standardverfahren werden, die auch nach der Erstdiagnose angewendet werden. Möglicherweise können wir eines Tages auch unsere Herstellungsverfahren an Patienteneigenschaften anpassen und so bei geringen Nebenwirkungen den Therapieerfolg verbessern.

STANDARD: In der gesamten Branche werden allerdings immer auch die exorbitant hohen Kosten für CAR-T-Zellen diskutiert. Wie soll sich ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem das leisten können?

Germeroth: Ich denke, wir werden anders denken müssen. Wenn es gelingt, mit einer einzigen Infusion eine Krankheit langfristig zu heilen, erspart man sich ja auch eine ganze Reihe von Kosten. Alle Anstrengungen gingen bisher dahin, Krankheiten zu chronifizieren, also den Krebs durch ständige Medikamenteneinnahme in Schach zu halten. Auch das kostet viel Geld. Das müsste man dann gegenrechnen. Unter Umständen entfallen auch Kosten für Spitalsaufenthalte. Da könnte sich viel verändern.

STANDARD: Werden die CAR-T-Zellen auch außerhalb der Hämatologie ein Thema werden?

Germeroth: Einstweilen sind die Ansprechraten bei soliden Tumoren sehr moderat. Wir denken, dass man die CAR-T-Zellen vielleicht auch noch mit anderen molekular wirksamen Medikamenten kombinieren könnte, um so insbesondere solide Tumore besser zerstören zu können. Es wird aber noch dauern, bis solche multimodulierenden Therapien in die Klinik kommen. (Karin Pollack, 11.6.2019)