Der Singer-Songwriter Nick Cave verlor 2015 seinen Sohn. Mit seinen Fans teilt er die Trauer und macht Schicksalsgenossen Mut.

Kerry Brown

"Wenn Gott das Gefühl hat, dich zu mir führen zu müssen, dann wird er das tun." So ungefähr singt Nick Cave in seinem Lied "Into My Arms", in dem er die Arme für seine Geliebte öffnet.

Abzüglich der göttlichen Intervention, an die der Musiker nicht glaubt, bittet er seit einem halben Jahr Fans mit ihren Anliegen zu sich. Auf der Onlineseite "Red Hand Files" offeriert er Für- und Seelsorge. "Ask a Question" steht auf einem Button — und genau das kann man dort tun: dem Meister eine Frage stellen. Und Cave antwortet. Über 40-mal hat er bisher reagiert.

Von Beginn an belegten die "Red Hand Files", dass Cave damit nicht bloß ein Werkzeug zur Eigenwerbung im Sinn hat. Das hat er nicht notwendig, er ist ein globaler Star.

Nick Cave ist 61 und kommt aus Australien. Ende der 1970er-Jahre wurde er mit Bands wie The Boys Next Door und The Birthday Party berüchtigt. Nach dem Ende der Birthday Party schlug er mit der Formation The Bad Seeds eine Solokarriere ein und wurde berühmt auch noch. Er gilt als einer der bedeutendsten Songwriter der Gegenwart.

Entfremdet durch den Erfolg

Sein Erfolg war es, der ihn in den letzten Jahren eine Art Entfremdung wahrnehmen ließ. Caves Fangemeinde besteht zu einem Großteil aus treuen, mit ihm in die Jahre gekommenen Menschen. Als vom Punk sozialisierter Musiker vermisst er die Direktheit kleinerer Hallen, sagte er im Vorjahr in einem Interview.

Darauf reagierte er mit den "Red Hand Files". Aus der virtuellen Fragestunde ist aktuell eine Tour geworden, für die Cave das Modell auf die Bühne übertragen hat. Er lädt zum Gespräch, dazwischen spielt er ein paar Lieder am Klavier. Ein Österreich-Termin ist bislang nicht in Sicht.

emimusic

Den Fans bleiben die Files. "Wie wichtig war Elvis für dich?", "Welche sind deine frühesten Erinnerungen?", "Wie stellst du dir Gott vor?", "Wie beurteilst du Brian Enos Haltung gegenüber Israel?", "Wie hole ich mir einen Song von dir zurück, der mich an eine schreckliche Beziehung erinnert?"

Das sind vordergründig Fangirl- und Fanboy-Fragen, doch Cave hebt sie mit seinen Antworten auf eine höhere Ebene. Die Files sind in ihrer Art ein Gegengift zum schnellen Gekeife der sozialen Medien. Hier zählt nicht die am schärfsten formulierte Niedertracht, hier wird abgewogen, nicht bloß stur behauptet. Cave erkennt mit großer Treffsicherheit die tiefere Bedeutung, die oft neben der Frage liegt. In den Antworten offenbart er sich als Mensch mehr denn als Künstler. Immer ist er ernst und gewissenhaft, oft launig und unterhaltsam, doch die "Red Hand Files" sind kein plattes Unterhaltungsmedium. Sie besitzen eher den Charakter eines Buches, dem mit jeder Frage ein neues Kapitel hinzugefügt wird, das mit jeder Antwort um zumindest ein Thema reicher wird. Cave antwortet mit offenem Visier und mit offenem Herzen.

Der Tod des Sohnes

Dabei ist er mit sich selbst schonungslos. Immer wieder kommt der Tod seines Sohnes Arthur vor, der 2015 im Alter von 15 Jahren auf LSD von einer Klippe gestürzt ist. Dabei tritt zutage, dass diese öffentliche Korrespondenz ihm ebenso Therapie ist wie den Fragestellern. William aus New York schreibt, dass er seine Frau verloren hat und nun alleine seine Tochter aufzieht. Sie ist ein glückliches Mädchen, er aber tut sich schwer, Glück zu empfinden.

Cave beantwortet solche Fragen mit all den Zweifeln, die vernünftigen Menschen eingeschriebene sind. Nur der Hochmut haut seine Behauptungen in Stein. Cave weiß, welche tagtägliche Kraftanstrengung der Verlust eines geliebten Menschen bedeutet. Er erzählt von seinen Mühen, hilft, so gut er kann, mögen seine Schultern bei manchen Themen auch noch so schmal sein.

Die "Red Hand Files" sind in ihrer Mischung so berührend wie unterhaltsam. Die Einträge funktionieren wie Songs, spenden Trost und Freude. Die Freude mag mitunter den Umweg über das Tränental nehmen, aber so ist das Leben. Und für diesen ewig verwirrenden Zustand, in dem wir uns alle befinden, gesellt sich Cave für die Dauer seiner Antwort ganz nah an die Seite ihm fremder Menschen, zu denen er in den letzten 40 Jahren eine Verbindung über seine Kunst hergestellt hat.

Diese Bindung ist so tief, dass sie ihm vertrauen. Und er erweist sich als würdiger Adressat. Seine Offenheit würdigt die Intimität dieses Augenblicks, in dem sich Unbekannte mit ihm in der Virtualität treffen. Seine Antwort beendet er jedes Mal mit einem "With love, Nick". Man glaubt zu spüren, dass er es so meint. (Karl FLuch, 3.6.2019)