Wu'er Kaixi war vor 30 Jahren bei den Tian'anmen-Protesten dabei. Gemeinsam mit Christophe Deloire, dem Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen, warnt er im Gastkommentar vor Chinas Kampagne zur Unterdrückung der Medien.

Seit dem Massaker am Tian'anmen-Platz vor dreißig Jahren hat sich China wirtschaftlich außergewöhnlich gut entwickelt. Aber entgegen den Erwartungen vieler westlicher Politiker und Experten hat das Land bei Pressefreiheit oder Bürgerrechten keine wirklichen Fortschritte gemacht. Im Gegenteil: Wie der jüngste Bericht der Reporter ohne Grenzen (ROG) zeigt, arbeitet China heute aktiv daran, eine repressive "neue Medienweltordnung" aufzubauen – eine Initiative, die für die Demokratien der Welt eine klare und deutliche Gefahr darstellt.

Große Firewall

Die Pressefreiheit, eine der Hauptforderungen der Tian'anmen-Demonstranten, ist offiziell durch Artikel 35 der chinesischen Verfassung garantiert. Aber die Kommunistische Partei Chinas (KPC) und ihr Staatsapparat setzen sich immer wieder über sie hinweg.

Tatsächlich ist China eines der Länder, die die meisten Journalisten einsperren, und nimmt in der Weltrangliste der Pressefreiheit aus dem Jahr 2019 unter 180 Ländern nur den 177. Platz ein. Die "Große Firewall von China", ein hochmodernes Filtersystem für das Internet, schränkt den Zugang der meisten der 830 Millionen chinesischer Internetnutzer ein, und die KPC hat keine Hemmungen, Verlage und Plattformen der sozialen Medien zu zwingen, sich selbst zu zensieren. Mit Begründungen wie der "sozialen Harmonie" und der "Relativität der Werte" lehnt China heute die Universelle Erklärung der Menschenrechte offen ab.

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4. Juni 1989: Chinas 30 Jahre altes Tian'anmen-Geheimnis.
Foto: ap/Jeff Widener

Neues Selbstbewusstsein

An die Stelle der Befangenheit, die einige chinesische Politiker nach dem Tian'anmen-Massaker befallen hat, tritt jetzt ein neues Selbstbewusstsein. Heute wirbt das Regime stolz in aller Welt für sein autoritäres Modell. Die angestrebte neue Medienweltordnung ist weniger bekannt als die Seidenstraßeninitiative, aber genauso ehrgeizig.

Bei seiner Kampagne zur Unterdrückung der Medien profitiert China von den Spaltungen innerhalb der Demokratien. Das Land findet die Lücken, die sich im Engagement der Gesellschaften für demokratische Werte wie Toleranz und Offenheit auftun, und versucht, sie mit Propaganda für seine eigenen Ziele weiter aufzureißen. Die Politiker dort wissen, dass es, wenn Journalisten zum Schweigen gebracht werden, nach und nach keine Alternativen zum Autoritarismus mehr geben wird. Immerhin ist es unmöglich, eine konstruktive politische Debatte zu führen, wenn es strafbar ist, die offizielle Sichtweise zu hinterfragen.

Vorbild in Südostasien

Bereits jetzt hat die KPC begonnen, ihre repressiven Methoden mithilfe internationaler Konferenzen wie dem Weltmediengipfel und der Weltinternetkonferenz zu exportieren. In Südostasien dienen chinesische Gesetze als Vorbild für legislative Reformen, die auf die Einschränkung der Pressefreiheit abzielen, und viele Journalisten werden eingeladen, "Journalismus mit chinesischen Eigenschaften" zu lernen.

Sogar an Orten, an denen die Pressefreiheit immer noch geschützt ist, versucht China, sich in die Möglichkeit der Bürger einzumischen, informierte Entscheidungen über politische Themen zu treffen. Von Schweden bis nach Australien fordern die chinesischen Botschaften von den westlichen Medien, ihre eigene Berichterstattung zu zensieren. Unterdessen kaufen die Behörden bezahlte Inhalte in führenden westlichen Publikationen und investieren weiter in ihren weltweiten Propagandaapparat.

Wettlauf um Chinas Gunst

Die Demokratien der Welt müssen ihren kurzsichtigen Wettlauf um Chinas Gunst beenden und sich zusammentun, um dieser autoritären Vision zu widerstehen. Dies bedeutet, zu einer ehrgeizigen, nachdrücklichen und koordinierten Antwort zu kommen, die den Geist der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verteidigt.

Wir dürfen nicht zögern, gegen diejenigen zurückzuschlagen, die unsere Pressefreiheit angreifen. Wir müssen unsere Stimme erheben, um den Missbrauch zu verdammen, der sich gegen unsere Werte richtet. Und wir müssen es sofort tun.

Gemeinsamer Widerstand

Am 10. und 11. Juni treffen sich führende Verteidiger der Pressefreiheit aus aller Welt bei der Globalen Konferenz für die Freiheit der Medien in London. Sie müssen diese Gelegenheit nutzen, um ihre zentralen Prinzipien neu zu bestätigen. Weiterhin müssen sie sich zusammentun, um Barrieren gegen den chinesischen Einfluss auf die Medien zu errichten und die Straffreiheit für die Verletzung der Pressefreiheit zu beenden.

Ein solcher gemeinsamer Widerstand würde diejenigen ehren, die in China für die Verteidigung der Informationsfreiheit den höchsten Preis gezahlt haben, wie etwa der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, den die chinesische Regierung in der Haft hat sterben lassen. Er würde auch die über hundert Journalisten ehren, die heute unter lebensbedrohlichen Bedingungen eingesperrt sind, darunter den ROG-Preisträger Huang Qi und den Fotografen Lu Guang, der für seine Arbeit zu sozialen und ökologischen Problemen in China viele Preise gewonnen hat.

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Tian'anmen-Demonstranten am 4. Juni 1989 in Peking.
Foto: AP/Jeff Widener

Mut der Tausenden

Vor dreißig Jahren wurden in Peking und ganz China tausende friedliche Demonstranten massakriert, weil sie sich mutig gegen ein autoritäres Regime gestellt haben. Die Demokratien der Welt schulden es diesen Menschen, auch heute einen solchen Mut zu zeigen, indem sie in aller Welt die Pressefreiheit verteidigen – und die Demokratie selbst. (Wu'er Kaixi, Christophe Deloire, Übersetzung: Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 4.6.2019)