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Arbeiter versuchen im Mai 1989 das Bild von Mao am Tian'anmen zu verhängen.

Foto: REUTERS/Ed Nachtrieb/File Photo

Können die Mächtigen Geschichte so umschreiben, dass die Wahrheit über vergangene Geschehnisse tatsächlich verlorengeht? Diese Frage wird nicht erst seit der Veröffentlichung von George Orwells dystopischem Meisterwerk 1984 vor genau 70 Jahren gestellt. Nein, lautete die Antwort in den letzten Jahrzehnten meist. Geschichte lässt sich zwar unterdrücken, aber dann kehrt sie mit umso größerer Kraft zurück.

Weder hat die Opferthese über Österreichs Rolle in der NS-Zeit gehalten noch Stalins Geschichtsfälschungen oder die Verdrängung der Gräueltaten zwischen den jugoslawischen Volksgruppen unter dem Tito-Regime. Was geschehen ist, brennt sich in das kollektive Gedächtnis ein und bricht, wenn die Umstände sich ändern, wieder hervor. Geschichte lebt: Das zeigt sich, wohin immer man in der Welt schaut.

Wie im "Ministerium der Wahrheit"

Doch der 30. Jahrestag des Massakers auf dem Tian'anmen-Platz, dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens, stellt den Glauben an die Kraft der historischen Wahrheit auf eine harte Probe. Hier scheint ein Regime auf dem besten Weg zu sein, eine entscheidende Episode der jüngeren Vergangenheit einfach auszuradieren – so wie es in Orwells "Ministerium der Wahrheit" geschieht.

Mit lückenloser Zensur und modernsten technologischen Mitteln gelingt es dem chinesischen Regime, das Blutbad im Herzen der Hauptstadt aus dem nationalen Gedächtnis zu tilgen. Wenn man China-Experten glauben darf, dann haben die meisten Älteren die dramatischen Ereignisse vom 4. Juni 1989 verdrängt und die Jüngeren davon noch nie gehört.

Wendepunkt der Post-Mao-Ära

Die Fixiertheit der chinesischen Zensur allein auf das Wort "Tian'anmen" hat ihre guten Gründe. Die blutige Niederschlagung der Studentenproteste in Peking und vielen anderen Städten war der Wendepunkt der Post-Mao-Ära. Damals entschieden sich Deng Xiaoping und seine Männer, das Machtmonopol der Kommunistischen Partei mit allen Mitteln zu verteidigen. Das bedeutete auch, jede politische Liberalisierungstendenz im Keim zu ersticken.

Zwar gingen die Wirtschaftsreformen weiter und schufen jenen Wohlstand, der die Diktatur für viele erträglich machte. Aber die Hoffnung, dass der Aufstieg Chinas zu einer Konsumgesellschaft wie einst in Taiwan und Südkorea eine Demokratisierung mit sich bringen würde, wurde bewusst zerschlagen. Tian'anmen war der Vorbote der wachsenden Repression in Hongkong, der Alleinherrschaft von Präsident Xi Jinping, und der brutalen Unterdrückung der muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang.

Keine Marktwirtschaft ohne Gedankenfreiheit

Schließlich war die Entscheidung der KP für Gewalt und gegen Dialog im Juni 1989 ein Grund für Chinas fragwürdige Rolle in der Weltwirtschaft heute. Denn in einer Gesellschaft, die keine Gedankenfreiheit zulässt, kann zwar Staatskapitalismus funktionieren, aber keine echte Marktwirtschaft wie in Europa, den USA oder Japan. Und das ist auch ein potenzielles Hindernis für Chinas weiteren Aufstieg.

An dieser Frage könnte sich das Schicksal der Geschichtsfälschung entscheiden. Zwar spielt Xi immer öfter die nationalistische Karte, aber die Legitimität der KP-Herrschaft beruht vor allem auf dem Erfolg ihres ökonomischen Modells. Dieses hat bisher fast alle Prüfungen bestanden.

Sollte es aber doch scheitern, dann könnten die Bilder von Tian'anmen auch in Peking wieder auftauchen – und die Überzeugung der Machthaber, dass sich über die Vergangenheit auch die Zukunft kontrollieren lässt, Lügen strafen. (Eric Frey, 4.6.2019)