Die 1858 geborene Ethel Smyth war nicht irgendeine Frau aus dem bürgerlichen England des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie war Komponistin, Dirigentin, Managerin und Suffragette. Sie hatte zahlreiche Beziehungen zu Frauen und widmete ihren Liebhaberinnen viele ihrer Werke. Mit Virginia Woolf sprach sie offen über Sexualität, bereits in ihrer Kindheit bevorzugte sie Kleidung für Knaben und setzte durch, dass sie im Alter von 19 Jahren allein zum Kompositionsstudium nach Leipzig gehen durfte – eine große Seltenheit für unverheiratete bürgerliche Frauen in jener Zeit. Ihr großer Elan und ihr Talent verhalfen ihr zu Auftritten bei Queen Victoria oder 1903 an der Metropolitan Opera – als erster Frau überhaupt, deren Werk im renommierten New Yorker Opernhaus aufgeführt wurde. Auch in Wien wurden ihre Werke in den Konzertsälen der Stadt aufgeführt. Die ständigen Restriktionen, die sie aufgrund ihres Geschlechts im Kulturbereich erleben musste, veranlassten sie schließlich, bei der Women's Social and Political Union (WSPU) Seite an Seite mit Emmeline Pankhurst für das Frauenwahlrecht zu kämpfen. Smyth komponierte dafür den "March of the Women", die Hymne der Frauenwahlrechtsbewegung.

Ethel Smyth, Kämpferin für die Gleichstellung von Frauen.
Foto: gemeinfrei

Queer Desire

Ab 1919 veröffentlichte sie autobiografische Bücher und erlangte dadurch große Berühmtheit. Hier thematisierte sie ihre Erfahrungen als Frau in einem Männerberuf und berichtete von ihren Kämpfen für das Frauenwahlrecht, von weiblichen Mäzeninnen und Frauennetzwerken – und in Chiffren auch über ihre lesbischen Beziehungen. Weibliche Homosexualität wurde im Gegensatz zur männlichen in den meisten Ländern (außer Österreich) nicht strafrechtlich geahndet, allerdings bedeutete das Bekanntwerden dieser zur damaligen Zeit als pathologisch gesehenen Beziehung zumindest das gesellschaftliche Aus. Durch ihren Eintritt in die Künstler*innenszene im Salon des Ehepaars Heinrich und Elisabeth von Herzogenberg lernte Smyth ab den 1880er-Jahren auch zahlreiche Persönlichkeiten mit alterativen Lebensentwürfen kennen. Die meisten ihrer engsten Vertrauten waren Frauen, die ihre sexuelle Orientierung in Scheinehen verbargen – eine Praxis, die aufgrund der Gesetzeslage und der gesellschaftlichen Ausgrenzung bis weit ins 20. Jahrhundert notwendig war. Mit Elisabeth ging sie schließlich eine Beziehung ein. In ihrem autobiografischen Roman "Impressions that Remained" lesen wir:

"Und dort, inmitten der heimeligen Umgebung des Daches und der heruntergekommenen Möbel, begann die zarteste, sicherlich die wirklich zarteste Beziehung, die je zwischen einer Frau [Herzogenberg] und einer Frau entstehen konnte, die trotz ihrer Jahre kaum besser war als ein Kind [Smyth im Alter von 19 Jahren]."

Elisabeth von Herzogenberg beschrieb diese Beziehung in einem ihrer Briefe als "queer desire". In dieser Zeit interessierte sich Smyth für die Frauenwahlrechtsbewegung, hatte sie doch auch eine Affäre mit Rhoda Garrett, einer frühen Kämpferin für das Frauenwahlrecht, der sie auch den langsamen Satz ihres Streichquartetts widmete. Ohne die zahlreichen Frauennetzwerke und Netzwerke lesbischer Künstler*innen hätte Smyth vermutlich nie die Chance gehabt, sich in der europäischen Kulturlandschaft in der Männerdomäne Komposition annähernd zu behaupten.

Suffragette

1903, nach der Gründung der Women's Social and Political Union von Emmeline Pankhurst als bürgerliche Frauenbewegung, die vor allem durch Kämpfe, Protestkundgebungen und Hungerstreiks ("Deeds not Words") bekannt wurde, engagierte sich auch Smyth für diese Angelegenheit. Sie komponierte etliche Stücke zum Thema Frauenrechte und kämpfte bei den Demonstrationen Seite an Seite mit ihrer Geliebten Pankhurst. Am 1. März 1912 wurde Smyth im Rahmen der Proteste schließlich verhaftet. Der Dirigent Thomas Beecham erinnerte sich an einen Besuch in Holloway: "Ich kam im Innenhof des Gefängnisses an, um die edle Gesellschaft von Märtyrern anzutreffen, die herummarschierten und dabei ihren Kriegsgesang sangen, während die Komponistin, die aus einem höher gelegenen Fenster das Geschehen überblickte, in fast bacchischem Rausch dazu den Takt mit einer Zahnbürste schlug." Obwohl sie sich nach ihrer Inhaftierung von den Kämpfen der Suffragetten zurückzog, war sie stets bereit, sich "in den Dienst der Sache des Frauenrechts zu stellen und, wenn es notwendig ist, wieder zur Fahne zu greifen".

1918 erhielten die Frauen in Österreich das aktive und passive Wahlrecht, nachdem bereits elf Jahre zuvor das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer eingeführt worden war. In Großbritannien durften Frauen seit 1918 lediglich dann wählen, wenn sie das 30. Lebensjahr bereits vollendet hatten. Auch Virginia Woolf war diese Problematik bewusst, sie forderte mit ihrem 1929 erschienenen Essay "Ein Zimmer für sich allein" das Recht auf finanzielle Unabhängigkeit für Frauen. Sie lernte Smyth 1930 kennen und beschrieb diese Beziehung mit den Worten "queer collocation" (queere Anordnung oder Zusammenstellung, Anm.). Noch war es nicht möglich, sich in der Öffentlichkeit als homosexuell zu deklarieren. In ihren Briefen werden die beiden Frauen jedenfalls deutlicher: "Ich nippe an Dir, wenn ich mich schwach fühle", so Virginia Woolf an Ethel Smyth.

Ein Vorbild für künftige Generationen

Smyth stellte sich gegen die Stereotype und das geläufige Weiblichkeitsideal ihrer Zeit. Sie bezeichnete ihre eigene sexuelle Identität als "sapphism", allerdings konnte sie sich wohl aufgrund der grundlegenden Homophobie der Gesellschaft öffentlich nie explizit zu ihrer Homosexualität bekennen. Als Kämpferin für Frauen*rechte und englische Komponistin, die eine internationale Karriere verfolgte, wagte sie sich dennoch trotz der Zensur weit vor und thematisierte ihre sehr engen Beziehungen mit Frauen ausführlich. Obwohl sie heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, konnte sie durch ihr unermüdliches Engagement für weibliche Unabhängigkeit als queeres Role Model ihrer Zeit den Weg für künftige Generationen ebnen. (Angelika Silberbauer, 5.6.2019)