Souveränes Spiel mit der Musik von Johann Sebastian Bach: "Die sechs Brandenburgischen Konzerte" erweisen sich als gelungene Gratwanderung.

Anna Van Aerschot

Hier haben eine Choreografin und ihre Company nichts ausgelassen, was man richtig machen kann. Anne Teresa De Keersmaeker arbeitet mit ihrer ganz eigenen modernen Tanzästhetik, die eine große Bandbreite zwischen rigidem Minimalismus und entspannter Sinnlichkeit erlaubt. Oft vermischt sie ihre Möglichkeiten auf eine Art, die wirkt, als wäre sie wie geschaffen für ein breites Publikum.

Die Überraschung: Der Schein trügt nicht. Und das, obwohl sich dahinter eine ausgesprochen reichhaltige Struktur aus analytischen Prozessen, Bezugsgeflechten und technischen Feinheiten versteckt, die den meisten Werken der weltberühmten Belgierin ihre charakteristische Tiefenschärfe gibt.

Zu einem Musterbeispiel dafür ist das große Stück Die sechs Brandenburgischen Konzerte geworden. Die Gruppe von sechs Instrumentalkonzerten von Johann Sebastian Bach in der Umsetzung des B’Rock Orchestra hat dem kritischen Festwochenpublikum nach seiner Österreich-Premiere im Theater an der Wien einen wahren Begeisterungssturm abgerungen.

Kurzweilig

Kein Wunder, könnte man behaupten, bei dieser luftigen Bach-Musik, dem virtuosen Tanz einer fabelhaften sechzehnköpfigen Gruppe und der Heiterkeit, der während zweier kurzweiliger Stunden immer wieder aufblitzt. Allerdings doch ein Wunder, denn gerade eine solche Mischung kann brandgefährlich werden. Eine Spur von Unsicherheit im künstlerischen Ansatz oder ein paar Verlegenheitseffekte genügen, schon landet das gute Ding in den Gräben von Selbstüberschätzung oder Kitsch.

Die sechs Brandenburgischen Konzerte führen das Gegenteil vor. Anne Teresa De Keersmaeker versteht Johann Sebastian Bachs Musik so gut, dass sie sich davon nicht vorführen lässt, sondern die Freiheit gewinnt, mit ihr zu spielen. Dabei löst der Tanz die Musik aus ihrer historischen Heiligkeit, und die Musik entbindet das Geschehen auf der Bühne vom hektischen ideologischen Gezerre der Gegenwart. Aus diesem Kräftespiel entsteht scheinbar wie von selbst die Darstellung einer Utopie.

Durch alle sechs Konzerte bewegen sich kleinere oder größere Gruppen, ab und zu auch Einzelfiguren in kurzen Soli. Zu Beginn bilden sie eine lange Reihe, die von hinten nach vorn und wieder zurück schwappt, sich auflöst, nach Freiheiten im Zusammenspiel sucht. Immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten des Austauschs, überwiegend ausgeglichen, stets bereit, einander zu überraschen.

Und weil eine Utopie keine ist, wenn sie Perfektion vortäuscht, haben De Keersmaeker und ihre Tänzer riskante Momente, winzige Brüche, angedeutete Übertreibungen eingebaut. Jederzeit könnte die Balance kippen. Es liegt in der Verantwortung jedes und jeder Einzelnen, der gemeinsamen Reise die richtige Dynamik zu geben. Und das gilt gerade heute für unsere Demokratie auch. (Helmut Ploebst, 4.6.2019)