Kadidiatou Diani ist als Torjägerin, aber auch für selbstlose Pässe bekannt. Ihr Vorbild heißt Zidane.

Foto: APA/AFP/FRANCK FIFE

Frankreich ist keine Fußballnation wie Deutschland oder England: Die nationale Liga vermag die Massen kaum zu packen und strahlt auch nicht über die Landesgrenzen aus. Doch wehe, wenn die Leidenschaft erwacht. So war es 1998, als Zinédine Zidanes "Black-blanc-beur"-Truppe (schwarz-weiß-braun) die Nation in den siebenten Himmel spielte. Und so war es im Juli 2018, als Didier Deschamps' Team den zweiten WM-Stern ans blaue Hemd heftete.

Auf diesen Effekt setzt am Freitag auch die Frauennationalelf, wenn sie die Heim-WM in Angriff nimmt. Frauenfußball ist in Frankreich weniger verankert als etwa in Nordeuropa. Dass es dennoch ein starkes Nationalteam gibt, hat vor allem mit der Weite des Landes und der Anzahl der Vereine zu tun.

Deshalb können die Bleues, also die Nationalspielerinnen, aus dem Vollen schöpfen: Von der Bretagne bis Nizza gibt es zahlreiche Profiklubs. Die beiden stärksten sind Paris Saint-Germain (PSG) und Olympique Lyonnais (OL). OL hat mehrfach die Champions League gewonnen.

Von der Straße ins Team

Dass das Reservoir an Spielerinnen so groß ist, verdankt sich nicht zuletzt – wie bei den Männern – der Immigration. Die sogenannten Banlieueviertel stellen gut die Hälfte der 23 Spielerinnen der Auswahl, die am Freitag (21 Uhr, ORF Sport+) gegen Südkorea die WM eröffnet.

Kadidiatou Diani ist eine von ihnen. Die 24-jährige Stürmerin kam zum Fußball, wie man in ihrem Herkunftsland Mali, aber auch in Frankreichs Vorstädten zum Fußball kommt: Sie spielte mit ihrem Bruder auf der Straße. Ab neun trat sie in lokale Klubs ein – Vitry, Ivry, Juivisy, alles Namen, die für Franzosen nach Banlieue-Ghettos klingen.

Diani ist Torjägerin, machte sich aber auch einen Namen für ihr selbstloses Passspiel. Mit 16 erhielt sie ein Angebot, von dem zigtausende Immigrantenkinder im Großraum Paris träumen. Sie wurde in die erste Mannschaft von PSG berufen. Im Nationalteam gilt sie als Matchwinnerin: Wenn es bei der Frankomalierin gut läuft, siegen die "Bleues" meist. Wie ihr großes Vorbild Zidane. "Ich habe die Videos der WM '98 geschaut", meinte die bescheidene Spielerin dieser Tage. "Als unsere Mannschaft die Trophäe hochhob, sagte ich mir: Warum nicht wir?"

Die Nummer 10 in der Verteidigung

Ein anderes Beispiel ist Amel Majri. Die 25-jährige Frankotunesierin ist die Stütze der Verteidigung, sie spielte schon 46-mal in der Equipe. Die Sportpresse nennt sie "couteau suisse" (Schweizer Taschenmesser), weil sie sehr vielseitig ist und mit ihren Positionswechseln gegnerische Teams destabilisiert.

Majri, in Tunesien auf die Welt und mit einem Jahr in die Lyoner Vorstadt Vénissieux gekommen, begann ebenfalls auf der Straße zu kicken; bei Olympique Lyonnais musste sie sich zuerst in einer gemischten Mannschaft behaupten. Danach durchlief sie den typischen Werdegang vieler französischer Banlieuesportler: Sie spielte zuerst in tunesischen Auswahlen, weil sie auch diesen Pass besitzt.

Als sie aber immer besser wurde, musste sie sich auf Drängen des französischen Verbandes (FFF) entscheiden; und wie die meisten Männer entschied sie sich für Frankreich – sei es wegen ihres Zugehörigkeitsgefühls oder wegen der Perspektiven. Wie auch immer: Im Team trägt Majri die mythische Nummer zehn, die schon die Männer Platini, Zidane oder Mbappe trugen.

"Garçon manqué"

Star der Bleues ist Amandine Henry (29). Die blonde Kapitänin stammt nicht aus einer Immigrantensiedlung, sondern aus einem anderen, sozial nicht viel besser gestellten Vorort von Lille. Die Spielmacherin trat ebenfalls bis 13 in einer gemischten Mannschaft an; noch heute sieht sie sich deshalb als "garçon manqué", das heißt, als Mädchen, an dem ein Junge verlorenging. Mit Lyon gewann Henry zehnmal die nationale Meisterschaft und fünfmal die Champions League; ein Jahr lang spielte sie auch als Profi beim US-Klub Portland.

Apropos Profi. Wenn sie den Titel holen, winkt den Bleues eine Prämie von je 40.000 Euro. Die Herren Weltmeister hatten 2018 je 370.000 Euro eingestrichen. Zu WM-Beginn hat Amandine Henry eine Art Tagebuch ihres Aufstiegs herausgegeben – von der Göre, die mit den Buben um den Ball rang, zur gefeierten Leaderin im Team. Das Buch richtet sich an Mädchen, die aus Vororten ins Rampenlicht drängen, der Titel lautet Croire en ses rêves! – "an seine Träume glauben". Es könnte die WM-Losung der Bleues sein. (Stefan Brändle aus Paris, 7.6.2019)