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Theresa May, hier anlässlich des D-Days im südenglischen Portsmouth, ist am Brexit gescheitert. Ihrer Partei drohen auf lange Sicht die Wähler wegzusterben.

Foto: Reuters / Toby Melville

Am Freitag leitet Theresa May mit ihrem Rücktritt als Vorsitzende der Konservativen Partei Großbritanniens auch offiziell den Abschied von der Macht ein. Im politischen System der Insel muss Parteichef sein, wer der 62-Jährigen auch im Amt als Premierminister oder Premierministerin nachfolgen will. Regierungschef der siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt und eines der fünf permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrats zu sein, einer stabilen Demokratie mit globaler Perspektive vorzustehen – das muss ein Traum sein für jedes der 650 Mitglieder des Unterhauses, aus denen sich Mays Nachfolger rekrutiert.

Der Rücktritt vom Parteivorsitz soll durch die Übergabe eines persönlichen Schreibens von May an ihre Partei vollzogen werden; ein öffentlicher Auftritt der scheidenden Premierministerin ist nicht geplant.

Tatsächlich wollen elf Männer und Frauen den Posten ergattern, allen Nachteilen zum Trotz. Die fünf aussichtsreichsten Kandidaten heißen Andrea Leadsom, Jeremy Hunt, Michael Gove, Boris Johnson und Sajid Javid (siehe Kurzporträts unten). Immerhin erbt, wer Mitte Juli in der Downing Street einzieht, nicht nur die Codes für die britischen Atomraketen. Neben dem ultimativen Symbol der Macht fällt dem Nachfolger auch ein vergiftetes, schier unlösbares Problem in den Schoß: Großbritanniens unvollendeter Austritt aus der EU.

Am Brexit ist May gescheitert, und die zentrale Fragestellung britischer Politik überschattet unweigerlich auch die Amtszeit des oder der nächsten Tory-Vorsitzenden. Viel unmittelbarer wird es dabei auch um die Frage gehen, ob der nächste Chef auch der letzte sein wird. Bei der Kommunalwahl in England Anfang Mai handelten sich die Tories eine gewaltige Ohrfeige der Wähler ein, landeten bei 28 Prozent und verloren mehr als 1.300 Stadt- und Gemeinderäte. Drei Wochen später verpassten die Wähler der Regierungspartei bei der EU-Wahl praktisch einen Knock-out: 9,2 Prozent der Stimmen stellten das niedrigste Ergebnis seit mehr als 150 Jahren dar.

Premieren noch und nöcher

Man rechnet in diesen Dimensionen bei einer Gruppierung, deren Anfänge auf die Regierungszeit Charles' II. (1660–1685) zurückgehen und die sich stolz "älteste Partei der Welt" nennt. Die Tories bescherten der Nation mit Benjamin Disraeli (1874–1880) den ersten, wenn auch konvertierten Juden im Amt des Premierministers. Sie stellten in Margaret Thatcher (1979–1990) die erste Frau als Regierungschefin. In den 123 Jahren zwischen Disraelis Triumph 1874 und der Abwahl von Thatchers Nachfolger John Major 1997 waren die Tories 84 Jahre an der Macht, entweder allein oder in Koalitionen. Nach einer Durststrecke von 13 Jahren Opposition – so lange wie zuletzt im 18. Jahrhundert – haben seit 2010 erneut Konservative – David Cameron bis 2016, seither May – in der Downing Street residiert.

Im langfristigen Zweiparteiensystem der Insel verkörperten die Konservativen lange Zeit das schwer definierbare Konzept des Common Sense. Man billigte ihnen einen skeptischen Respekt vor Traditionen zu, gleichzeitig ein instinktives Verständnis der Realität und blitzschnelle Anpassungsfähigkeit. "Über die Tories wurde immer gesagt: Sie stellen die Regierung, oder sie stellen gar nichts dar", weiß Geoffrey Wheatcroft. "Regieren war ihre Raison d'Être."

War, wohlgemerkt. Schon 2005 legte der Autor ein Buch mit dem Titel "The Strange Death of Tory England" vor. Die dort beschriebenen Trends hat Wheatcroft erst kürzlich wieder aufgezählt. Hatten die Konservativen in vier Jahrzehnten bis 1992 bei acht von zwölf Unterhauswahlen die Mehrheit der Mandate geholt, gelang dies seither nur ein einziges Mal in sechs Anläufen.

Die vom Brexit überschattete Wahl 2017, als May ihre Mehrheit einbüßte, bestätigte langfristige Probleme. Den Tories laufen die Frauen davon. Die Jungwähler orientieren sich an der Labour-Opposition unter Jeremy Corbyn, wählen Liberaldemokraten oder Grüne. Sind die Konservativen also eine Zombiepartei für die demnächst Toten?

Alt, männlich, weiß

Überaltert sind sie – und massiv zusammengeschrumpft. In den 1950er-Jahren, hat Wheatcroft ermittelt, zählte die Partei 2,7 Millionen Mitglieder. Zuletzt galt ein Zustrom von rund 40.000 Menschen auf nunmehr 160.000 Mitglieder als Riesenerfolg. Deren Durchschnittsalter beträgt einer Studie der Londoner Queen-Mary-Universität zufolge 57 Jahre. Sie sind reicher als der Durchschnitt der Bevölkerung und fast ausschließlich weiß.

Vor allem aber: Ihre Gegnerschaft zur EU ist viel radikaler als in der Parlamentsfraktion, geschweige denn in der Bevölkerung. Die neuen Tories dürften den Trend verstärken, jedenfalls berichtete eine Reihe von Abgeordneten übereinstimmend von Masseneintritten durch frühere Mitglieder der EU-feindlichen Ukip-Partei.

Dieses Phänomen verstärkt den Druck auf Mays Nachfolgekandidaten, dem chaotischen Brexit ohne Austrittsvereinbarung (No Deal) das Wort zu reden. Doch was dann? "Über Nacht würden wir unseren in 300 Jahren erworbenen Ruf für wirtschaftliche Kompetenz für immer ruinieren", fürchtet Rory Stewart, der als einziger der Kandidaten für einen Kompromiss-Brexit eintritt. Beim Parteivolk hat er damit keine Chance. Dem Entwicklungshilfeminister bleibt, so scheint es, ein Himmelfahrtskommando erspart. (red, Sebastian Borger, 6.6.2019)