Parteichefin Pamela Rendi-Wagner bei der 130-Jahr-Feier der SPÖ in Hainfeld Anfang des Jahres.

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Der Politberater Rudolf Fußi hält Diskussionen über die Parteispitze der SPÖ für kontraproduktiv. Im Gastkommentar plädiert er für einen Neustart.

Die Krise der in Umfragen absteigenden SPÖ ist aufgrund ihrer jahrzehntelangen Rolle als Komplizin des Neoliberalismus nicht weiter überraschend. Sie wird jedoch verschärft durch fehlende Geschlossenheit, suboptimale Personalauswahl, strategische Unfähigkeit und ein Versagen im politischen Spiel der Kräfte rund um den Misstrauensantrag gegen Sebastian Kurz.

"Zack, zack, zack!"

Jeder halbwegs gebildete Mensch würde meinen, dass das legendäre Ibiza-Video mit der FPÖ bei den Wahlen "zack, zack, zack!" macht und die SPÖ die größte Profiteurin sein müsste. Weit gefehlt: Die SPÖ fuhr ein katastrophales Ergebnis ein und liegt in einer aktuellen "Profil"-Umfrage bereits hinter der Ibiza-FPÖ. Und dann darf sich der geneigte Medienkonsument am Wahlabend anhören, dass die SPÖ ihr Wahlziel einer höheren Wahlbeteiligung erreicht habe.

Und dann gehen die Parteispitzen in die "ZiB 2". In einem Setting und einer sichtbaren Bildstimmung, die ohne Ton so wirkt, als würde die Parteivorsitzende soeben mitteilen, dass in Österreich leider ein völlig unheilbarer Vogelgrippestamm ausgebrochen sei und wir alle sterben werden. Und wahrscheinlich würden die vor Professionalität und Testosteron strotzenden Topberater der Parteivorsitzenden selbst dann noch argumentieren, dass das Sterben aller Österreicher eigentlich eh super sei, weil wenn gar keiner wählen gehen kann, dann sei man gleichauf mit der ÖVP, und das sei doch ein undenkbarer Fortschritt im Vergleich zur jetzt so herausfordernden Lage. Alles super.

Fröhlich-progressive Kraft

Unsere Gesellschaft braucht nichts mehr als eine fröhliche, entschlossene, progressive Kraft, die ihre Finger in unsere Wunden legt und kompromisslos Politik für jene macht, die eine ausgleichende, solidarische und leistungsfreundliche Politik brauchen und für die diese Partei einst gegründet wurde. Das ist die historische Rolle der SPÖ, und diese hat sie vergessen.

Selbst im Hainfelder Programm war man klarer bei Fragen, die bis heute ungelöst sind. Stichwort: Erbschaftssteuer, Senkung indirekter Steuern, Kapitalbesteuerung. Die SPÖ erfüllt das Bedürfnis jener, die nicht mehr an diesen Casino-Kapitalismus glauben und einen wirklichen Gegenentwurf wollen, in keiner einzigen Sekunde.

Gescheitertes System

Es gibt 1,5 Millionen in Armut lebende Menschen in Österreich, für die es eine persönliche Katastrophe ist, wenn die alte Waschmaschine kaputt wird, weil sie sich keine neue leisten können. 1.500.000 Menschen. Können sich keine Waschmaschine leisten. Keine Waschmaschine! Und das in einem der reichsten Länder der Welt.

Und dann will mir noch irgendjemand, der sich nicht der völligen Lächerlichkeit preisgeben will, erklären, dass dieses System eh funktioniere? Ein System, das 1,5 Millionen Menschen in Armut produziert. Ein System, das Menschen – empirisch bewiesen – krank macht. Ein System, das unsere eigenen Unternehmen im Kampf gegen null Euro Steuern zahlende US-Giganten nicht schützen kann oder will und sie zum Darüberstreuen mit einer völlig ausufernden Bürokratie und Regelungswut belohnt?

Ein System, das dazu führt, dass die heute 30- bis 50-Jährigen mehrheitlich keine Chance auf eine Pension in einer Höhe haben werden, die für eine Wohnung im städtischen Bereich, auch nicht im Sozialbau, reichen wird? Ein System, das die größte Altersarmut seit Kriegsende 1945 produzieren wird? Ein System, das Macht und Vermögen in den Händen weniger konzentriert?

Ein System, das unsere Jugend nicht mit der Bildung versorgt, um sie zu den Besten zu machen? Ein System, das hasserfüllte Verteilungskämpfe zwischen sozial Schwachen und Schwächsten und der längst im Abstieg befindlichen Mittelschicht produziert und unsere Gesellschaft an dieser Bruchlinie immer mehr spaltet? Ein System, das keine Gerechtigkeit, sondern noch immer mehr Ungerechtigkeit schafft?

Ein System, das hunderttausende Menschen in die Situation bringt, von einem 40-Stunden-Job nicht leben zu können? Ein System, das die Arbeitsleistung, die ein Mensch mit Hand und/oder Kopf erbringt, von allen Einkommensarten am höchsten besteuert? Ein System, das das eigene Schicksal nicht von der Leistung, sondern vom Glück, in die richtige Familie geboren worden zu sein, abhängig macht?

Ein System, das eine Finanzwirtschaft hat, die mehr als 400-mal so groß wie die Realwirtschaft ist? Ein System, das dazu führen wird, dass uns allen in wenigen Jahren unser Hinterteil auf leider längst geschmolzenes Glatteis gehen wird, weil die Klimakatastrophe unaufhaltsam fortschreitet?

Nein.

Nein sagen ist kein Fehler

Die SPÖ hat ihre historischen Verdienste erbracht, für die ihr alle Österreicherinnen und Österreicher zutiefst dankbar sein müssen. Aber: Nein. Wo bleibt das wirklich entschlossene Nein? Warum hat die SPÖ Angst, das Scheitern dieses Systems zu benennen? Warum hat die SPÖ nicht viel öfter genau dieses Nein gesagt? Dieses System will niemand. Niemand. Einfach nochmal die Fakten lesen und sagen, wo da ein Fehler sein soll. Da ist kein Fehler. Dieses System ist der Fehler. Und eine politisch gesunde Sozialdemokratie müsste diesem System den Kampf ansagen und die Komplizinnenrolle abgeben.

Diese Ratschläge lege ich einer starken, zukunftsfreudigen Kraft im Interesse der Republik ans Herz.

Nimm dir die Zeit, die es braucht! Parteien denken immer nur an die Schlagzeile von morgen, an den nächsten Wahltag, der nie weit entfernt ist. Wir leben in einem System, das jahrzehntelang Fehlleistungen produziert und zu gewissen Haltungen geführt hat. Das kann man nicht in drei oder acht Jahren drehen, das wird ebenso Jahrzehnte dauern. Aber: Man muss endlich anfangen, daran zu arbeiten. Und wenn man einmal erkennt, dass die entscheidenden Wahlen erst in zehn oder 15 Jahren anstehen, dann kann man sich Zeit lassen, Programm, Personen auszuwählen und einen echten Neustart zu wählen.

Partei, öffne dich und mache Vorwahlen! Parteien im Abstieg verengen sich, man will ja Mandat oder Posten, in jedem Fall Relevanz und Eitelkeitsbefriedigung nicht missen. Man sollte den Parteivorsitzenden ab sofort nur noch von allen Mitgliedern in einer richtigen Vorwahl wählen lassen. Fenster aufmachen, Wind von Gemeinden und Basis reinwehen lassen. Tausende Menschen würden mitmachen und der SPÖ zu einer Frischzellenkur verhelfen. Und: Du musst jung und weiblich werden, alte Dame!

Sei klar, froh, entschlossen und verständlich in deiner Sprache! Kein Funktionärssprech mehr, bitte. Normale Menschen, die normal reden. Reden, wie die Menschen reden. Am wichtigsten: sagen, was ist.

Mach endlich die Augen auf, und fühle den Schmerz! Versuche, dich in jene hineinzuversetzen, die Ängste haben. Die sich schämen, weil sie arm sind. Fühle ihren Schmerz. Erkenne Ungerechtigkeiten auf allen Ebene und benenne ihnen genau so, wie du deine eigenen Fehler auf allen Ebenen benennst, wenn du einen glaubwürdigen Neuanfang willst.

Sei für die da, die dich brauchen, kompromisslos! Millionen Menschen gehören nicht zu den Profiteuren dieses Systems. Die überwiegende Mehrheit. Read my lips: Eine Kraft, die dauerhaft, ohne zu zaudern oder zu zögern, sondern maximal entschlossen die Interessen dieser Mehrheit artikuliert, vertritt und dabei niemals wankt, so eine Kraft ist nicht aufzuhalten.

Überzeugung vor Macht: Haltung! Wenn man in einem 15-Jahresplan denkt, und genau das ist auch die Aufgabe: Haltung einnehmen. Öffentlich rote Linien ziehen, von Erbschaftssteuer bis Ökologisierung des Steuersystems, Klimaschutz first! Die einhalten, auch wenn das Machtverlust bedeutet. Auf Dauer führt das zur Mehrheit.

Hab Visionen, erzähl von deiner Welt! Wie retten wir das Klima, wie schaffen wir leistbares Wohnen, wie schaffen wir Arbeit, wie beflügeln wir die Wirtschaft? Wie kommen Frauen leichter nach oben, und wie schließen wir die Gehaltslücke? Wie sieht dein Wunschbildungssystem aus, und wie geht’s den Kindern dort? Erzähl uns von dir und dieser Welt, für die du kämpfst. Habe den Mut zu Ehrlichkeit und Neustart!

Sei mutig, wütend und kraftvoll! Sei wütend über die Verhältnisse. Sei mutig, alles an dir selbst zu ändern, das notwendig ist. Ziehe Energie aus der Ungerechtigkeit und der Wut darüber. Wandle die Wut in kraftvolle Politik um.

Last Exit: Neugründung

Die SPÖ braucht einen Neuanfang. Das gelingt nur, wenn man sich eingesteht, dass der eingeschlagene Weg jetzt zu Ende ist. Dazu gehört auch Ehrlichkeit zu sich selbst und Respekt. Jeder hat gesehen, dass Pamela Rendi-Wagner eine wirklich tolle Expertin und dann auch Gesundheitsministerin war. Erfrischend, kompetent, locker, sympathisch. Und heute sieht man diese Pamela Rendi-Wagner nicht mehr. Das fällt auf. Aber jetzt sind Diskussionen über die Parteispitze außer kontraproduktiv nur noch ein Verstoß gegen den einst so heiligen Grundwert Solidarität. Personen sind in dieser Situation weniger wichtig als der Einstieg in den Neustart.

Langfristig gesehen ist es auch völlig irrelevant, wie die Nationalratswahl im September ausgeht. Es geht um Einsicht und daraus resultierende Taten. Der Neustart ist notwendig, wenn die Partei eine relevante Kraft werden oder ihren völligen Absturz doch noch verhindern will. Mut zur Langsamkeit. Das nimmt auch den Druck raus. Sie braucht einen starken Impuls, der sie zur Veränderung zwingt und einer Rosskur unterzieht. Das kann niemand aus dem bestehenden Apparat sein. Und es muss natürlich glaubwürdig sein. Oder zumindest so gut gemacht wie bei Sebastian Kurz oder Emmanuel Macron in Frankreich.

Letzter Rat: Ehrliche Einsicht. Glaubwürdige Umkehr. Wirkliche Neugründung. Auf nach Hainfeld! (Rudolf Fußi, 7.6.2019)