Bild nicht mehr verfügbar.

Pale war einst eine Hochburg von Radovan Karadžić. Bis heute ist der verurteilte Kriegsverbrecher in dem Ort präsent.

Foto: AP / Darko Bandic

Pale ist ein Bergdorf, gute Luft, exzellente Forellen und saubere Bächlein. Bessere Voraussetzungen fürs Nachdenken kann man kaum finden. An der Hauptstraße des Ortes unweit von Sarajevo, der im Krieg als Zentrum der bosnisch-serbischen Nationalisten fungierte, steht ein unscheinbarer neuer Gebäudekomplex.

Ein paar Studenten kommen gerade zurück von der Uni. Nevena studiert Recht, Gavrilo Geschichte, Jovica Mathematik und Jovan Wirtschaft. Sie sind alle Anfang 20 und kommen aus anderen Orten in Bosnien-Herzegowina. Die Kosten für das Studentenheim hier sind gering. Die jungen Leute zahlen 145 Mark im Monat, umgerechnet 85 Euro.

Ethnische Säuberung

Wenn man in das vordere Gebäude des Studentenheims tritt, fällt eine schwarze Steinplatte auf, in die eingraviert ist, dass das Gebäude "Dr. Radovan Karadžić" gewidmet sei. Karadžić lebte jahrelang in Pale, er war der Präsident der Republika Srspka – jener Region in Bosnien-Herzegowina, aus der im Krieg zehntausende Menschen vertrieben wurden, weil sie keine orthodoxen, sondern katholische oder muslimische Namen hatten. Karadžić war der Ideengeber für diese Politik der "ethnischen" Säuberung.

Das Studentenwohnheim wurde 2016 eröffnet.
Foto: Adelheid Wölfl

Der erste Genozid nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa richtete sich gegen Muslime. Am 24. März 2016 verurteilte ihn das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wegen der dreieinhalbjährigen Belagerung Sarajevos, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für den Völkermord in Srebrenica zu 40 Jahren Haft. Nach einem Berufungsverfahren wurde er dieses Jahr am 20. März zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die Studierenden in Pale, die in einem Haus leben müssen, das nach dem Schwerverbrecher benannt ist, sagen, dass sie sich nicht "um den Namen kümmern" würden, dass das "eine politische Sache" sei und Karadžić für sie sicherlich "kein Held" sei.

"Unser erster Präsident"

Nevena denkt, dass das Studentenheim nur diesen Namen bekommen habe, "weil Karadžić unser erster Präsident war". Angesprochen auf die lebenslange Haftstrafe für Karadžić, meinen die jungen Leute, dass sie "eine andere Meinung" zu dem Urteil hätten. "Es wäre kein Problem, wenn das Gericht nicht so einseitig wäre und auch Naser Orić verurteilt worden wäre", meint etwa Gavrilo. Naser Orić war der Kommandant von Srebrenica, ein ehemaliger Bodyguard von Slobodan Milošević und ein Krimineller. Wegen der Überfälle auf serbische Dörfer in der Nähe von Srebrenica und Morde wurde er aber nicht verurteilt. Das findet nicht nur Gavrilo ungerecht. Mit Karadžić und dessen Verbrechen hat das allerdings nichts zu tun.

Es weist aber auf ein anderes gängiges Thema in Bosnien-Herzegowina hin: Viele Bürger glauben, dass das Gericht in Den Haag nur dann gerecht urteilen würde, wenn Angehörige von allen Volksgruppen in ähnlichem Ausmaß bestraft werden würden. Sie sind so stark in ihrem ethnischen Denken verhaftet, dass sie nicht verstehen, dass Ethnizität für Gerichte kein Kriterium ist und man Schuld nicht aushandeln kann.

Gängiges Narrativ

Die Studierenden würden es bevorzugen, wenn das Wohnheim nach dem nationalistischen Historiker Milorad Ekmečić benannt werden würde. Mehr oder weniger folgen sie aber der gängigen Verschwörungsidee, wonach Serben auch deshalb als Kriegsverbrecherland verurteilt würde, weil es eine Serbophobie gäbe, die Teil einer Russophobie sei. Betont wird die Opferrolle. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn die regierenden Rechten in Banja Luka betreiben Tag für Tag Geschichtsrevisionismus.

Die Studenten sind aber keineswegs unkritisch, wenn es um das politische Gefüge geht, in dem sie heute leben. Sie fühlen sich manipuliert, sagen, dass kaum jemand frei denken könne, und sprechen sogar von einem autoritären System. "Aber es hilft ja nichts, wenn man dagegen ankämpft", sagt Gavrilo, der nach Gavrilo Princip benannt ist, dem Mörder von Franz Ferdinand und Sophie. "Wir haben ja gesehen, was mit den Protesten für David passiert ist."

Mysteriöser Tod

Der Hintergrund: Bis Ende des Vorjahres gingen in Banja Luka tausende Menschen auf die Straße, die die Aufklärung des dubiosen Todes des 21-jährigen Studenten David Dragičević forderten. Die Proteste wurden schließlich niedergeschlagen und Demonstranten kriminalisiert. Nun glaubt kaum jemand mehr, dass eine freiere und gerechtere Gesellschaft entstehen könnte.

Die jungen Leute sind also in einer Zwickmühle: Einerseits leben sie im alten Nationalismus. Gavrilo hält es etwa für unmöglich, dass er gemeinsam mit Studenten aus Sarajevo Geschichte studieren könnte. "Wir haben zwei völlig verschiedene Geschichten", ist er überzeugt. Auf der anderen Seite fühlen sie sich aber perspektivenlos. Fragt man sie, was sie nach dem Studium machen wollen, sagen sie alle unisono: "Njemačka. Wir gehen nach Deutschland." (Adelheid Wölfl, 8.6.2019)